Vordereingang

Das Öffnen der alten, hölzernen Eingangstüre erforderte ein wenig Geschick. Die abgegriffene Türfalle liess das alte Schloss nur dann aufschnappen, wenn man sie schnurgerade und kräftig nach unten drückte. Ein lautes Knack kündigte den Bewohnern im ersten Stock jeden Besucher an, noch bevor dieser das Haus betreten hatte. Das Mädchen war jetzt schon etwas grösser geworden und brauchte sich nicht mehr auf die Zehenspitzen zu stellen, um die Türfalle zu erreichen. Früher hatte sie sich einfach ein wenig an den Türgriff gehangelt um zum Ziel zu kommen. Obwohl sie ihr Elternhaus unzählige Male täglich betrat überlegte sie es sich jedesmal gut, direkt durch den Vordereingang einzutreten.
Es gab da nämlich die indirekte Variante, jene, die um das Haus herum am alten Nussbaum vorbei zum Hühnerhof und den Kaninchenställen führte. Nachdem sie die Hühner beschworen hatte, zu Ostern doch bitte extra grosse Eier zu legen und den Kaninchen die unterwegs gepflückten Grashalme durch den Maschendraht gesteckt hatte, konnte sie auf dem Kiesweg nach einem besonders schönen Kieselstein suchen. In ihrer Muschel- und Kieselsteinsammlung fanden allerdings nur die schönsten Exemplare einen Platz!
Wenn sie sich dann noch an der Waschküche vorbei die vier Treppenstiegen hinauf schlich, gab es da noch eine Tür, eine mit bunten Glasscheiben, deren Kittfugen schon zerbröckelten und doch noch alles zusammenhielten. Hinter dieser zweiten Tür befand sich nicht eine steile Stiege, die jeden Schritt knarrend begleitete und in die Laube und zum Küchenfenster führte. Nein, hinter dieser zweiten Tür erwarteten sie Geschichten und Abenteuer. Verlebte, furchige Männerhände, die bunt bemalte Vogelhäuschen basteln konnten oder über ihr Haar strichen und nach den Schulwegerlebnissen fragten. Eine ruhige, liebevolle Stimme, die sich Zeit nahm, ihr eine Geschichte zu erzählen, so wie kürzlich jene von Streuner, einem herumziehenden Hund, der am Ende der Geschichte eine richtige Familie fand, bei der er bleiben durfte.
Jetzt war jedoch nicht die Zeit des Hintereingangs. Es war an der Zeit, den direkten Weg zu nehmen. Sie holte tief Luft und drückte kräftig auf die abgegriffene Türfalle am Vordereingang, streifte sich an der ausgefransten Türvorlage nicht nur ihre Schuhe ab, sondern auch gleich ihre kindliche Neugier. Sie fasste mutig den abgerundeten, hölzernen Handlauf und nahm die steile Stiege in Angriff, die ihr mit jedem Tritt nach oben knarzend etwas einbläute. Ein „Putz deine Schuhe“ beim ersten Tritt. Ein „Räum deine Schulsachen auf“ beim Zweiten. Der Dritte raunzte ein „Du kommst zu spät“ und der Vierte warf ihr vor, die Türe wieder nicht richtig verschlossen zu haben, als sie das Haus verlassen hatte. Die fünfte Stiege schnappte nach Luft, als ob sie unter dem Gewicht des Kindes zusammenbrechen würde. Der sechste Treppentritt fand, sie sei wieder mal zu vorwitzig gewesen und frech und der Siebte wünschte sich, sie würde nur ein einziges Mal einfach ohne zu murren das tun, was man ihr sagt. Am schwersten jedoch war für sie die achte Stiege. Fast wünschte sie sich, die Nummer acht würde auch etwas schreckliches zu ihr sagen, anstatt sie jedes Mal mit Verachtung zu strafen.

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