Ein Semesterende in 5 Teilen

1. Lehrerwahl
Ausgerechnet Pitzi Blödmann! Das hatte ihr gerade noch gefehlt, dass sie die Projektarbeit vor den Sommerferien mit diesem großkotzigen, ignoranten Kerl zusammen erarbeiten soll. Es war doch von vornherein klar, dass die ganze Arbeit ihr anhaften würde. Der blond gelockte Strahlemann hatte bestimmt nicht vor, seine wertvolle Zeit damit zu vergeuden, einen Tag lang draußen die Vögel am Bach zu beobachten. Geschweige denn, anschließend eine Klausurarbeit inklusive Text und Zeichnungen über das Gesehene zu gestalten. Und schon hielt ein besonders lustiger Klassenclown ein eiligst gekritzeltes Blatt Papier hoch: »Vögel(n) am Bach«. Ha ha ha. „Mit DER doch nicht“ bezeugte sein spöttischer Blick in die Schulklasse des Gymnasiums, als der Lehrer die Zuweisung der Themen auf die von ihm festgelegten »Paare« bekannt gab.

Anna hatte nicht vor, dieses Spiel mitzumachen, zudem konnte sie auf die Kränkungen gut verzichten. Also schnappte sie ihr Notizbuch, das Zeichenheft und die Stifte, schlüpfte in ihre Jeansjacke und machte sich auf zum nahe gelegenen Bach. Ihre Lieblingsstelle lag ganz in der Nähe der alten Holzbrücke, da, wo der Wasserlauf verzweigte, um etwa hundert Meter weiter vorne wieder zusammenzufließen. An diesem Abschnitt war die Böschung nicht so steil und man konnte es sich recht bequem machen. Wenn der Bach nur wenig Wasser führte, gelang es mit einem beherzten Sprung sogar, die kleine Insel, die an jener Stelle entstanden war, zu erreichen. Bestimmt würden da einige Vögel auftauchen, über deren Verhalten sie ein paar Seiten schreiben konnte. Das mit dem Zeichnen machte ihr weit mehr Sorgen, ihre ungelenken Zeichenstriche ließen den Betrachter selten erkennen, was sie da mit Farbstiften zu Papier hatte bringen wollen. Sie legte sich ins Gras und fing an, sich Gedanken über die blöde Projektarbeit zu machen. „Vögel am Bach“, das würde kein Knüller werden. Während sie ihren Gedanken nachhing, war es still geworden um sie herum.

2. Vögel am Bach
„Na, Anna, kommst du gut voran?“ Blondlocke Pitzi war aufgetaucht und setzte sich neben sie. „Was tust DU denn hier?“ Sie war überrascht, dass er sie gefunden hatte, oder eher erstaunt, dass er sich überhaupt auf den Weg gemacht hatte, sie zu suchen. „Na, ist doch schön hier, da wird man sich den Tag schon vertreiben können.“ „Ja klar, und wer schreibt die Arbeit?“ „Renk dich ein, wir haben genug Zeit, lass uns das gemütlich angehen.“ Sie verkniff sich eine trotzige Antwort und fing an, nach dem ersten Vogel Ausschau zu halten.

„Hast du Zigaretten?“ Seine Frage erstaunte sie wenig, er war ein Schnorrer. „Ja, klar. Du nicht?“ „Jetzt sei doch nicht so, kriegst sie zurück.“ Was soll’s, dachte sie, auf die eine Zigarette kam es auch nicht an. So pafften sie schweigend vor sich hin, sichtlich bemüht, die Lungenzüge cool aussehen zu lassen und die aufkeimenden Hustenreize tunlichst zu unterdrücken.

„Na ihr zwei, Schule schwänzen, hä?“ Der Alte war mit seinem Hund unterwegs und erschreckte die beiden gehörig. Geschickt ließ Anna ihre halb gerauchte Zigarette verschwinden. Pitzi fing sich sofort und machte weiter einen auf lässig. „Nö, Vögel beobachten, Projektarbeit heißt das heute!“ Ein selbstbewusster Pitzi wusste sich eben stets zu helfen. Der Alte lachte vor sich hin und blickte über die Wiese zu seinem unweit gelegenen Hof. Er sah etwas verschroben aus in seiner zu kurzen Hose, in welcher ein helles Unterhemd steckte, und die von einem ausgeleierten Hosenträger gehalten wurde. „Vögel, von wegen. Heute gibt es hier doch nur noch Piepmätze! Früher, als der Bach nicht reguliert war, trat er regelmäßig über die Ufer und schwemmte die Felder bis zu meinem Hof. Überall Wasser. Da gab es jede Menge Störche und Fischreiher zu sehen! Die hatten ein Festmahl, so viele Frösche wie zu holen waren.“ „Echt?“ Jetzt war Pitzi offenbar interessiert. „Dann war der Radweg ja gar nicht mehr befahrbar, oder?“ „Radweg! Junge, damals gab es keinen Radweg, der wurde erst mit dem Damm gebaut. Ja ja, das sah hier alles ganz anders aus.“

Anna hatte den alten Mann mit seinem Hund schon oft hier gesehen, jedoch noch nie mit ihm gesprochen. Er war ihr immer etwas verstockt vorgekommen mit dem schlurfenden, gebückten Gang und einem kalten Stumpenrest im Mund. Jetzt fand sie ihn eigentlich recht sympathisch und das brachte sie auf eine Idee. „Würden Sie uns mehr erzählen aus dieser Zeit? Für die Projektarbeit?“ Pitzi staunte und schaute sie fragend an. „Na,“ flüsterte sie ihm zu „hat ja niemand gesagt, wir müssen eine Gegenwartsgeschichte schreiben, oder?“

„Wenn ihr meint, von mir aus. Heute ist Freitag, da bäckt meine Frau immer einen Kuchen. Kommt doch mit, dann trinken wir dazu einen Tee und ich zeige euch die alten Fotos.“ Anna sagte begeistert zu und Pitzi war ganz still geworden.

3. Anderswelt
Pitzi fühlte sich in der vorsintflutlichen Küche sichtlich unwohl. Er war den Rauch vom Holzofen nicht gewohnt und die vom Ruß geschwärzten Wände fand er gruselig. Aus dem Stall drang Viehgeruch ins Wohnhaus und in der Küche schwirrten Fliegen umher. Die Bäuerin hatte tatsächlich einen Kuchen gebacken und kochte nun Teewasser, während der alte Bauer in der Wohnstube das Holzbuffet nach den Fotos durchsuchte. „Ich heiße Anna, und das ist Pitzi, äähh Peter. Wir schreiben eine Klausurarbeit über die Vögel am Bach. Es ist wirklich sehr nett von Ihnen, dass Sie uns dabei helfen.“

Inzwischen hatte Pitzi sein Zeichenbuch gezückt und mit ein paar wenigen Bleistiftstrichen den Holzofen mit der dampfenden Pfanne darauf skizziert. Anna schielte über seine Schultern und stupste ihn frech an. „Hey, du kannst ja richtig gut zeichnen, hätte ich dir gar nicht zugetraut!“ „Na, wenn ich an dein Gekritzel im Zeichenunterricht denke, mache ich die Zeichnungen für unsere Arbeit wohl lieber selber.“ „OK,“ sah sie ein, „1:0 für dich.“

Der Bauer setzte sich zu ihnen an den Küchentisch und sortierte ein paar Fotos aus. »Hier, das muss etwa dreißig Jahre her sein. Diese Bilder hat der Zeitungsfotograf damals gemacht und sie uns anschliessend geschenkt.« Die Schwarz-Weiss-Fotos steckten in einer Kartontüte und waren bereits leicht vergilbt. »Das Wasser hat die kleinen Fische bis auf das Feld geschwemmt. Die Graureiher konnten die zappelnden Tierchen im Spaziergang schnappen. Und hier, gleich fünf Störche haben sich den Bauch neben unserem Stall vollgeschlagen.« Als die Bäuerin eines der Fotos in die Hand nahm, blieben ihre trüben Augen daran hängen und ein Lächeln erhellte kurz ihr Gesicht. Sie streifte die Fingerkuppen sanft über das Bild und sagte »Schau, Kind, da stehst du vor dem Haus, mit dem Bäri.« Anna und Peter schauten erst die alte Frau und dann einander verwundert an. Der Bauer zog sein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und und als er sich damit die müden Augen rieb, war es still geworden in der Küche.

4. Zur Sache
Einen halben Apfelkuchen später hatten sie genug Material für die Arbeit zusammen und der Bauer gab ihnen sogar ein paar der Fotos mit. Sie verabschiedeten sich dankend beim alten Ehepaar und gingen zurück zum Bach. „Siehst Du, alles easy. Ich sag doch, man muss so was langsam angehen.“ „Ja ja, alles easy. Vor allem der coole Obermacker aufm Bauernhof. Wie erklärst du das bloß deiner Mutti, dass du nach Kuhstall riechst?“ Kaum hatte sie es ausgesprochen, tat es ihr ein wenig leid, dass sie ihn wieder pikste. Er schien es gelassen zu nehmen, pflückte ein Gänseblümchen und legte sich in die Wiese. „Sie liebt mich, sie liebt mich nicht. Sie liebt mich, sie liebt mich nicht. Sie liebt mich.“ „Was soll das denn, machst du hier jetzt einen auf romantisch oder was?“ »Du bist zickiger, als ich dachte.« Das saß.

»Ist sowieso spät geworden, ich mach mich auf den Heimweg.« »Spät ist um die Zeit nur für Streberinnen. Wir können das nächste Woche zu Papier bringen.« »Ach, und was hast du vor? Gänseblümchen pflücken?« »Lass uns eine rauchen.«

»Hast du es schon mal getan?« »Was?« »Na, was schon!« »Wieso sollte ich das ausgerechnet dem Obermacho meiner Klasse erzählen?« »Du bist also nicht nur zickig, sondern auch verklemmt.« »Dann zeig mir, wie’s geht, und erzähl erstmal von dir. Wie war’s denn so mit Nikita, hm?« Er nahm einen Zug der Zigarette, drückte den Stummel zwischen Daumen und Mittelfinger zusammen und spickte ihn in den Bach. Nachdem er den Rauch geräuschvoll durch die rund geformten Lippen gepresst hatte, verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und legte sich ins Gras, den Blick in den blauen Himmel gerichtet. Er wandte seinen Kopf auf ihre Seite und sah sie unvermittelt an. »Gar nicht.« »Wie bitte?? DAS Gesprächsthema an der Schule seit über einer Woche – und es war nichts? Du willst mich doch veräppeln!«

Blondlocke blinzelte in den Sommerhimmel und zuckte mit der Schulter: »Die Leute reden gerne, das weißt du genau.« »Jetzt hör aber auf, weder du noch Niki haben das abgestritten, und jetzt willst du behaupten, es war eine Zeitungsente. Im übrigen geht es mir am Arsch vorbei, mit wem du ins Bett steigst, das ist deine Sache. Ich will nur nicht zum Tagesgespräch werden, wenn du morgen irgendeinen Mist rausposaunst. That’s all.«

»Niki und ich waren grad so richtig in Fahrt gekommen mit rumknutschen. Just in dem Moment, als ich an ihrem Reißverschluss rummachte, kam mein kleiner Bruder ins Zimmer.« »Kleinen Brüdern kann man Geld für ein Eis geben, dann verziehen sie sich wieder, oder?« »Er war aufgeregt, weil er im Garten eine Blindschleiche gefunden hatte. Die brachte er mit nach oben, um sie mir zu zeigen. Niki kreischte angewidert und machte sich aus dem Staub. Was weiß ich, was sie mit ihren auf Neuigkeiten wartenden Freundinnen tratschte. Mich hat keiner gefragt.«

»Tut mir echt leid, wenn ich dich auslache, aber du musst zugeben, die Geschichte ist amüsant.« »Es spielt so oder so keine Rolle, nach diesem Semester bin ich wieder weg.« »Wieso das denn, lässt Du das letzte Schuljahr etwa aus?« »Nein, ich absolviere es nur nicht hier. Meinen Eltern gefällt es wohl doch nicht auf dem Land, wir ziehen um nach Basel.« »Cool! Da wär ich sofort dabei, freust du dich etwa nicht?« »So cool ist es nicht, alle zwei Jahre umzuziehen, glaub mir.«

Peter wandte sich ihr zu und stützte sich lässig auf den Ellbogen. Er setzte sein verschmitztes Grinsen auf, zwischen den Zähnen einen Grashalm, und sah verdammt gut aus. »Heute wär ein Wetter, um Dichter zu zeugen, vielleicht möchtest du ja die Gelegenheit ergreifen?.« »Hau bloß ab!« Und grade, als sie dies sagte, war es still geworden am Bach.

5. Semesterende
»Es geschehen noch Zeichen und Wunder!« Der Biologielehrer eröffnete die Stunde – es war die letzte der Projektwoche und läutete somit die Sommerferien und den Semesterwechsel ein. Anna hatte nie verstanden, wen er mit seinen doofen Sprüchen beeindrucken wollte, bei ihr klappte es auf jeden Fall nicht. Heute würden sie die Klausurarbeiten zurück bekommen und die Noten dazu erfahren. In Biologie bedeutete das stets ein Spießrutenlauf, der Lehrer genoss es sichtlich, die jeweils besten Arbeiten gegen die miserabelsten auszuspielen. Anna war in Bio Mittelmaß und ganz glücklich darüber. So musste sie ihre Arbeiten nie vor der Klasse präsentieren und wurde dafür auch nicht klein gemacht.

»Einige von euch haben mich überrascht – ich hätte nicht gedacht, dass ihr euch so dreinhängt in die Arbeiten. Nun, es gibt auch jene, bei denen ich überhaupt nicht überrascht bin, aber das wird euch nicht überraschen.« Die Klasse nahm die für den Lehrer typischen Bemerkungen mit Seufzern und theatralischen Augenrollern zur Kenntnis. Angespannt waren nur jene Schüler, deren Versetzung ins nächste Semester von dieser Note abhängig sein würde. Wie Peter zum Beispiel.

Die Inszenierung begann. »Martin und Evelyn zum Thema Im Bienenstock. Keine Überraschung.« Durchgefallen. »Petra und Marion – Feldblumen. Immerhin, der gute Wille ist zu erkennen.« Könnte eine genügende Note bedeuten. Und so ging es weiter, der Lehrer verteilte die Arbeiten mit entsprechenden Kommentaren an die Schüler, angefangen bei der schlechtesten Note. Und gerade, als Anna und Peter sich fragend anschauten und dachten, der Lehrer hätte ihre Arbeit vergessen, da trat der Biolehrer vor Peters Pult.

»Peter und Anna zum Thema Vögel am Bach.« Bühnenreife Pause. Kindisches Kichern in der Klasse. Austausch vielsagender Blicke. »Grandios! Seriöse Recherche. Dokumentarisch hinterlegt. Großartige Zeichnungen. Fabelhafter Text. Eine glatte Sex!« Anna wich das Blut aus dem Gesicht. Sie sah buchstäblich alles den Bach runter gehen, genau so, wie sie es erwartet hatte. Anna wagte einen Blick in die Runde, die sich auf den Spott vorbereitete. Tuscheln. Als sie ihren Blick Peter zuwendet, schmunzelt der Macho zufrieden vor sich hin. Als er verheißungsvoll mit der rechten Augenbraue zuckte, war es still geworden im Klassenzimmer. 

 

2 Kommentare zu „Ein Semesterende in 5 Teilen

Hinterlasse einen Kommentar