Sissi und Tarzan

Als Johnny Weissmüller 1932 mit nichts als einem Lederfetzen um die Lende aus einer Baumhöhle kroch, seinen sonnengebräunten Luxuskörper reckte und aus der unbehaarten Brust den Tarzanschrei zum Leben erweckte, da war es um eine ganze Generation junger Frauen geschehen. Mit offenen Augen und Mündern klebten sie in den Kinosesseln und sahen, wie ein richtiger Mann aussieht. Und als Jane, schreiend vor dem furchteinflößenden Anblick eines sich ihr nähernden Affen, sich an Tarzans nackte Brust warf und dort Schutz fand, da wussten all diese Frauen in den Kinos: Das will ich auch.

Dreiundzwanzig Jahre später steht für alle Tarzans dieser Welt kein Stein mehr auf dem anderen. Die Welt gehört einer Frau, die nicht nur schön und hinreißend ist, sondern auch noch selbstbewusst und mutig. Diese Frau sucht keine starke Schulter, nein ihr ist nach jemandem, der ihr eine eigene Meinung zugesteht. Sie lehnt ihren Kopf an eine schmächtige Brust, deren einzige Macht die goldenen Orden sind, die an ihr prangen. Die Herzen der Kinozuschauer gehören Sissi und ihrem Kaiser Franzl.

In diesen Jahren hat Sissi einen Samen in die Herzen so mancher Frau gepflanzt. Selbst aus der Angestellten des Quartierladens wurde eine Sissi, als sie beim Einfüllen von Vorratsdosen in die Verkaufsregale an ihre wahre Leidenschaft denken musste. Ihre Freude war die Sprache der Blumen, aus denen sie die schönsten Brautsträuße in der Gegend binden wollte, die feierlichsten Tisch-dekorationen und die würdevollsten Grabgestecke. Es war eine Sprache ohne große Worte, leise gesprochen und für alle Menschen gleichermaßen verständlich. Diese Sprache war farbig und zart und kräftig zugleich, in nichts zu vergleichen mit den aufdringlichen, besitzergreifenden Worten der Männer, die bei ihrem Vater um ihre Hand anhielten. Schon fast hatte sie ihren Traum aufgegeben, doch seit Sissi glaubte sie wieder fest daran, dass sie ihren eigenen Franzl finden würde. Ein Franzl, der sich bei ihren Eltern durchsetzen würde, die ihr eine Ausbildung verweigerten.

***

Man hatte sie gewarnt, die Angestellte des Quartierladens. Der Holzbauer im Dorf habe sich einen Gastarbeiter geholt, einen kräftigen. Man hatte ja schon die ersten Erfahrungen mit diesen fremden Arbeitern gemacht, die anstatt zu arbeiten den einheimischen Frauen nachpfiffen. Trotz mangelnder Kenntnis der Landessprache machten die Fremden ohne Umschweife deutlich, was sie von den Frauen erwarteten. Vielleicht aber war die wahre Angst der Warnenden jene vor den entblößten, braungebrannten Brustkörben, die sich ungeniert den Baugerüsten entlang schwangen und in den einheimischen Frauen den Wunsch nach Tarzan wecken könnten.

Die mutige Angestellte ließ sich weder von den Warnungen noch von den nackten Oberkörpern beeindrucken. Der Gastarbeiter kam fast jeden Tag in den Laden. Er kaufte Zigaretten, Zündhölzer und manchmal einen Apfel. Und obwohl er niemals mehr als diese drei Dinge kaufte, streifte er durch den ganzen Laden und sah sich über die Regale hin um, als suchte er etwas.

Die Angestellte Sissi tippte dem Fremden auf die breite Schulter und sagte zu ihm: »Bitte nur anfassen, was Sie kaufen!« Der Gastarbeiter drehte sich um, roch noch einmal an dem großen Schnitz Wassermelone in seiner Hand, und murmelte: »Riechen wie Heimat.«

Er hatte keine großen Worte gebraucht, um der Angestellten in einer ihm fremden Sprache sein Gefühl von Heimweh zu vermitteln. Als er den Laden verließ, drehte er wie jedes Mal seinen Kopf und sah sich noch einmal um. Er sah, wie die hinreißende Sissi jenen Schnitz Wassermelone, die er in Händen gehalten hatte, in einen Einkaufskorb legte. Zwei Augenpaare trafen sich.

Gut möglich, dass sich die beiden Augenpaare nach Ladenschluss noch einmal sahen. Vielleicht hatte er mit einer Blume in der Hand auf der Parkbank unter der Linde gegenüber dem Laden gesessen. Sie könnte den Tarzan in ihm geweckt haben, als sie ihm vom strengen Vater und dem unerfüllten Berufswunsch erzählte. Und er hatte eventuell unbeholfen und in wenigen Worten erzählt, wie er sich zu Hause gegen seinen eigenen Vater durchgesetzt und darauf seine Heimat verlassen hatte, als wäre er ein Franzl. Womöglich tauschten sie die Blume in seiner Hand gegen den Melonenschnitz in ihrer Tasche. Und vermutlich hat der Gastarbeiter daraufhin ein Messer aus der Hose gezogen, es aufgeklappt und den Schnitz in zwei Hälften geschnitten, denn von nun an wollten sie ein Leben lang alles miteinander teilen.

***

Es gibt ihn noch, den Lindenbaum. Die Bank davor ist nicht mehr die gleiche, und das gilt auch für Sissi, die darauf Platz genommen hat. Und für den Quartierladen gegenüber, der jetzt zu einer internationalen Detailhandelskette gehört.

Es ist Dezember und Sissis Blick ist so leer wie das Geäst der Linde, ihre Augen so trüb wie der Nebel im dreieckigen Schein der Straßenlaterne. Sissi sitzt da, in eine ihr viel zu groß gewordene Jacke gehüllt, das rechte Bein über das linke geschlagen. Sie spricht mit erhobenem Zeigefinger von leeren Versprechungen und von Schuld, und davon, dass man auf entblößter Brust keine Orden anbringen kann. Während Sissi vor sich hin redet, schließt die Angestellte der internationalen Detailhandelskette den Hintereingang. Sie sucht den Autoschlüssel in der Tasche, die an ihrer müden Schulter hängt, und hört durch die Abendstille hindurch Sissis Stimme.

»Wer sind Sie, ich kenne Sie nicht! Wollen Sie sich setzen?« »Ja, ich setze mich gerne einen Moment, ist es nicht zu kalt?« »Nein, wir treffen uns immer hier, wissen Sie. Wir treffen uns hier und teilen unser Pausenbrot. Haben Sie ein Pausenbrot?« »Nein, dafür ist es schon reichlich spät. Komm, ich bringe Dich nach Hause.« Die Angestellte spricht mit milder Stimme zu Sissi und reicht ihr die Hand. Sissis Lippen schüren sich zu einem trotzigen, schmalen Strich. Doch bevor sie etwas sagen kann, unterbricht das Mobiltelefon der Angestellten die Stille und Sissis Gedanken. »Hallo? Ja, sie ist hier, ich bringe sie gleich zurück. Vielen Dank für den Anruf.«

»Siehst Du Mama, im Altersheim suchen sie Dich schon. Heute ist St. Nikolaus und den willst Du doch nicht verpassen, oder?« »Ach ja, das sagten Sie schon. Ich muss jetzt zurück nach Hause, wissen Sie.« »Ich muss in die gleiche Richtung, gehen wir die paar Schritte doch gemeinsam.«

Es schien, als hätte sich die Gnade des Vergessens über beide Frauen gelegt, als sie zusammen das Altersheim betraten. Der Nikolaus schenkte ihnen Mandarinen und einen Lebkuchen. Sie baten um ein Messer, teilten den Kuchen und lächelten einander zu.

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