Sissi und Tarzan

Als Johnny Weissmüller 1932 mit nichts als einem Lederfetzen um die Lende aus einer Baumhöhle kroch, seinen sonnengebräunten Luxuskörper reckte und aus der unbehaarten Brust den Tarzanschrei zum Leben erweckte, da war es um eine ganze Generation junger Frauen geschehen. Mit offenen Augen und Mündern klebten sie in den Kinosesseln und sahen, wie ein richtiger Mann aussieht. Und als Jane, schreiend vor dem furchteinflößenden Anblick eines sich ihr nähernden Affen, sich an Tarzans nackte Brust warf und dort Schutz fand, da wussten all diese Frauen in den Kinos: Das will ich auch.

Dreiundzwanzig Jahre später steht für alle Tarzans dieser Welt kein Stein mehr auf dem anderen. Die Welt gehört einer Frau, die nicht nur schön und hinreißend ist, sondern auch noch selbstbewusst und mutig. Diese Frau sucht keine starke Schulter, nein ihr ist nach jemandem, der ihr eine eigene Meinung zugesteht. Sie lehnt ihren Kopf an eine schmächtige Brust, deren einzige Macht die goldenen Orden sind, die an ihr prangen. Die Herzen der Kinozuschauer gehören Sissi und ihrem Kaiser Franzl.

In diesen Jahren hat Sissi einen Samen in die Herzen so mancher Frau gepflanzt. Selbst aus der Angestellten des Quartierladens wurde eine Sissi, als sie beim Einfüllen von Vorratsdosen in die Verkaufsregale an ihre wahre Leidenschaft denken musste. Ihre Freude war die Sprache der Blumen, aus denen sie die schönsten Brautsträuße in der Gegend binden wollte, die feierlichsten Tisch-dekorationen und die würdevollsten Grabgestecke. Es war eine Sprache ohne große Worte, leise gesprochen und für alle Menschen gleichermaßen verständlich. Diese Sprache war farbig und zart und kräftig zugleich, in nichts zu vergleichen mit den aufdringlichen, besitzergreifenden Worten der Männer, die bei ihrem Vater um ihre Hand anhielten. Schon fast hatte sie ihren Traum aufgegeben, doch seit Sissi glaubte sie wieder fest daran, dass sie ihren eigenen Franzl finden würde. Ein Franzl, der sich bei ihren Eltern durchsetzen würde, die ihr eine Ausbildung verweigerten.

***

Man hatte sie gewarnt, die Angestellte des Quartierladens. Der Holzbauer im Dorf habe sich einen Gastarbeiter geholt, einen kräftigen. Man hatte ja schon die ersten Erfahrungen mit diesen fremden Arbeitern gemacht, die anstatt zu arbeiten den einheimischen Frauen nachpfiffen. Trotz mangelnder Kenntnis der Landessprache machten die Fremden ohne Umschweife deutlich, was sie von den Frauen erwarteten. Vielleicht aber war die wahre Angst der Warnenden jene vor den entblößten, braungebrannten Brustkörben, die sich ungeniert den Baugerüsten entlang schwangen und in den einheimischen Frauen den Wunsch nach Tarzan wecken könnten.

Die mutige Angestellte ließ sich weder von den Warnungen noch von den nackten Oberkörpern beeindrucken. Der Gastarbeiter kam fast jeden Tag in den Laden. Er kaufte Zigaretten, Zündhölzer und manchmal einen Apfel. Und obwohl er niemals mehr als diese drei Dinge kaufte, streifte er durch den ganzen Laden und sah sich über die Regale hin um, als suchte er etwas.

Die Angestellte Sissi tippte dem Fremden auf die breite Schulter und sagte zu ihm: »Bitte nur anfassen, was Sie kaufen!« Der Gastarbeiter drehte sich um, roch noch einmal an dem großen Schnitz Wassermelone in seiner Hand, und murmelte: »Riechen wie Heimat.«

Er hatte keine großen Worte gebraucht, um der Angestellten in einer ihm fremden Sprache sein Gefühl von Heimweh zu vermitteln. Als er den Laden verließ, drehte er wie jedes Mal seinen Kopf und sah sich noch einmal um. Er sah, wie die hinreißende Sissi jenen Schnitz Wassermelone, die er in Händen gehalten hatte, in einen Einkaufskorb legte. Zwei Augenpaare trafen sich.

Gut möglich, dass sich die beiden Augenpaare nach Ladenschluss noch einmal sahen. Vielleicht hatte er mit einer Blume in der Hand auf der Parkbank unter der Linde gegenüber dem Laden gesessen. Sie könnte den Tarzan in ihm geweckt haben, als sie ihm vom strengen Vater und dem unerfüllten Berufswunsch erzählte. Und er hatte eventuell unbeholfen und in wenigen Worten erzählt, wie er sich zu Hause gegen seinen eigenen Vater durchgesetzt und darauf seine Heimat verlassen hatte, als wäre er ein Franzl. Womöglich tauschten sie die Blume in seiner Hand gegen den Melonenschnitz in ihrer Tasche. Und vermutlich hat der Gastarbeiter daraufhin ein Messer aus der Hose gezogen, es aufgeklappt und den Schnitz in zwei Hälften geschnitten, denn von nun an wollten sie ein Leben lang alles miteinander teilen.

***

Es gibt ihn noch, den Lindenbaum. Die Bank davor ist nicht mehr die gleiche, und das gilt auch für Sissi, die darauf Platz genommen hat. Und für den Quartierladen gegenüber, der jetzt zu einer internationalen Detailhandelskette gehört.

Es ist Dezember und Sissis Blick ist so leer wie das Geäst der Linde, ihre Augen so trüb wie der Nebel im dreieckigen Schein der Straßenlaterne. Sissi sitzt da, in eine ihr viel zu groß gewordene Jacke gehüllt, das rechte Bein über das linke geschlagen. Sie spricht mit erhobenem Zeigefinger von leeren Versprechungen und von Schuld, und davon, dass man auf entblößter Brust keine Orden anbringen kann. Während Sissi vor sich hin redet, schließt die Angestellte der internationalen Detailhandelskette den Hintereingang. Sie sucht den Autoschlüssel in der Tasche, die an ihrer müden Schulter hängt, und hört durch die Abendstille hindurch Sissis Stimme.

»Wer sind Sie, ich kenne Sie nicht! Wollen Sie sich setzen?« »Ja, ich setze mich gerne einen Moment, ist es nicht zu kalt?« »Nein, wir treffen uns immer hier, wissen Sie. Wir treffen uns hier und teilen unser Pausenbrot. Haben Sie ein Pausenbrot?« »Nein, dafür ist es schon reichlich spät. Komm, ich bringe Dich nach Hause.« Die Angestellte spricht mit milder Stimme zu Sissi und reicht ihr die Hand. Sissis Lippen schüren sich zu einem trotzigen, schmalen Strich. Doch bevor sie etwas sagen kann, unterbricht das Mobiltelefon der Angestellten die Stille und Sissis Gedanken. »Hallo? Ja, sie ist hier, ich bringe sie gleich zurück. Vielen Dank für den Anruf.«

»Siehst Du Mama, im Altersheim suchen sie Dich schon. Heute ist St. Nikolaus und den willst Du doch nicht verpassen, oder?« »Ach ja, das sagten Sie schon. Ich muss jetzt zurück nach Hause, wissen Sie.« »Ich muss in die gleiche Richtung, gehen wir die paar Schritte doch gemeinsam.«

Es schien, als hätte sich die Gnade des Vergessens über beide Frauen gelegt, als sie zusammen das Altersheim betraten. Der Nikolaus schenkte ihnen Mandarinen und einen Lebkuchen. Sie baten um ein Messer, teilten den Kuchen und lächelten einander zu.

500 Jahre auf 200 Metern

Wer im Lissabonner Stadtteil Belém entlang der Hafenpromenade spaziert, trifft Aufbruchstimmung an. Man ehrt hier die berühmten portugiesischen Entdecker, allen voran Heinrich der Seefahrer, zu dessen 500. Todestag im Jahre 1960 das »Denkmal der Entdeckungen« eröffnet wurde. Im 15. und 16. Jahrhundert haben die von ihm initiierten Entdeckungsreisen das Land groß gemacht und stellten den Beginn der europäischen Expansion dar. Portugal wurde zum Mittelpunkt des europäischen Handels von Gewürzen und sonstigen Reichtümern aus den neuen Welten.

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Am Fuße des Denkmals liegt ein großflächiges Windrosen-Mosaik, in dessen Zentrum eine Weltkarte die portugiesischen Entdeckungen aufzeigt. Das Mosaik, ein Geschenk Südafrikas an Portugal, weckt Reiselust. Man kann sich lebhaft ausmalen, wie die mutigen Seefahrer hier den Hafen ihrer Heimat verliessen, um nach unbekannten Territorien und Schätzen zu suchen. So passierte Bartolomeu Diaz auf einer streng geheimen Entdeckungsfahrt unter portugiesischer Flagge 1488 als erster Europäer das Kap der guten Hoffnung. Im Jahre 1500 betrat Pedro Alvares Cabral in der Nähe des heutigen Porto Seguro zum ersten Mal brasilianischen Boden und gilt seither gemeinhin als Entdecker der späteren Kolonie Portugals.

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Begrüßt wurden die nach Hause kehrenden Seefahrer der damals weltgrößten Seemacht an der Hafeneinfahrt Lissabons durch den »Torre de Bélem«. 1521 ließ König Manuel I. den 35 Meter hohen Leuchtturm erbauen, den man heute über einen Steg bequem zu Fuß erreichen und besichtigen kann.

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Unmittelbar neben dem »Torre de Bélem« befindet sich ein weiteres Monument. Von einer beeindruckenden Steinmauer umrahmt steht ein Dreieck, einer Pyramide ähnlich, in einem Wasserbecken. In der Mitte des imposanten Mahnmals brennt ein Feuer. Links und rechts der Skulptur ist je ein Wächterhäuschen auszumachen. Im Schatten der Steinmauer sitzt ein alter Mann auf der mittleren Stufe eines Dreitritts und meißelt Zeichen in die Steinplatten. Rasch wird mir klar, dass es sich bei den Zeilen um Namen handeln muss. Namen, deren Träger nicht vom »Torre de Belém« begrüsst wurden, weil sie von ihrer Reise nicht zurückgekehrt sind. Mit voller Wucht nimmt mich die buchstäbliche Todesstille dieses Ortes ein.

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Ich kann nicht anders. Ich muss diesen Ort betreten. Ich muss die Namen lesen, die der alte Mann in die Steinplatten meißelt. Ich muss die Kerben der einzelnen Buchstaben mit meinen Fingern berühren. Ich spüre mich durch das A von Antonio Pereira Ramos, Soldat. Wie eine Blinde ertaste ich die Furchen, die der Name Manuel Serafim Lavado im Stein hinterlässt. Aus den Ritzen fallen Bilder von Müttern, die ihre Söhne unter Tränen in den Krieg ziehen lassen. Bilder von Soldaten, die ihre Frauen zum Abschied küssen und etwas von Kampf für das Vaterland in ihre Ohren flüstern. Wüste Szenen von verschwitzten Männern in ihren Uniformen, wie sie töten, wie sie sterben. Die Bilder fließen aus den in die Steinplatten gehauenen Namen wie ein Wasserfall und ertrinken schließlich im Wasser, in dem das Mahnmal steht.

An einzelnen Namen klebt eine Rose und ich stelle mir vor, wie die Witwen und Geschwister dieser gefallenen Soldaten die Blumen 50 Jahre nach dem Krieg hierher gebracht haben. Vielleicht waren es auch die Kinder und Enkel – wie viele davon wohl ihren Vater niemals gesehen haben?

Während 1960 das Salazar-Regime mit dem beeindruckenden »Denkmal der Entdeckungen« die großen Namen wie Heinrich der Seefahrer, Vasco da Gama und Ferdinand Magellan ehrte, schürte hunderte Seemeilen entfernt die Unabhängigkeit Belgisch-Kongos einen Aufstand in der portugiesischen Kolonie Angola. Nur ein Jahr darauf entwickelte sich der vorerst friedliche Protest in ein Massaker, das Portugal schließlich militärisch niederschlug. Es folgten weitere Krisen in Guinea und Mosambik. Die Kolonialkriege in den afrikanischen Gebieten Portugals kosteten rund 10’000 portugiesischen Soldaten das Leben.

Mit dem Mahnmal und militärischen Ehren gedenkt man hier seit dem Jahr 2000 den gefallenen portugiesischen Überseekämpfern. Exakt jede Stunde erfolgt die Wachablösung der beiden bewaffneten Soldaten in den Wächterhäuschen. Ziehen die Wachsoldaten an der Landesflagge vorbei, wird diese militärisch gegrüßt. Vielen Familien ist das Kriegerdenkmal bestimmt ein Trost, ein Ort, der ihren in der Fremde verlorenen Lieben eine Erinnerung setzt, vielleicht sogar versucht, ihrem Tod eine Art Sinn zu geben.

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Der Ort mag für viele Menschen unterschiedliche Bedeutungen haben, ich kann jedoch nur an eines denken: Nichts wird diese Namen jemals wieder zu Leben erwecken. Unwiederbringlich haben die Lebens- und Liebesgeschichten dieser Menschen in der Ferne ein jähes Ende gefunden. Und bei allem Respekt fällt mir auf, dass hier ausschließlich den landeseigenen Soldaten gedenkt wird.

Ich weiss nicht, ob die drei Monumente mit Absicht in dieser Reihenfolge auf so kleinem Raum erbaut wurden, vielleicht ist es Zufall. Noch nie jedoch habe ich auf geschätzten 200 Metern Promenade eine so geballte Ladung Geschichte erlebt, die sich immerhin über mehr als 500 Jahre erstreckt.

Geborene Seconda

Meine Mutter ist Schweizerin. Ihre Mutter auch, genauso wie deren Mutter, Grossmutter, Ur- und Ururgrossmutter es auch waren. All diese Frauen sind in der Schweiz geboren, Kinder von Schweizer Müttern, in der Schweiz aufgewachsen und haben – soweit es zu ihrer Zeit möglich war – hier in der Schweiz die Schule besucht. Sie sind meine Ahnen, meine Herkunft, ich stamme aus ihrer Linie ab. Meine Urururgrossmutter wuchs ein paar Dörfer weiter auf, als ich es tat. Die Namen all dieser Frauen waren typisch schweizerisch, ihr Aussehen und ihre Sprache waren es auch.

Nun, falls bei Ihnen während des Lesens dieser Zeilen der Eindruck entstanden sein sollte, dass es selbstverständlich sei, dass wir es bei den genannten Frauen (mich eingeschlossen) mit Schweizerinnen zu tun haben, dann täuschen Sie sich.

Die Schweizer Staatsbürgerschaft haben diese Frauen nämlich nicht etwa ihren Müttern oder gar ihren Geburtsorten oder den von ihnen besuchten Schulen zu verdanken. Nein, das kleine rote Büchlein mit weissem Kreuz lag nur deshalb in ihrer Schublade, weil ihre Väter Schweizer waren.

Und darin unterscheiden sie sich wesentlich von mir, oder wie ich es seit jeher empfinde, ich mich von ihnen. Zwar bin auch ich von einer Schweizer Mutter in der Schweiz geboren worden, habe hier die Schulen besucht und spreche wie eine echte Schweizerin. Aber ich habe aus Sicht unseres Staatsrechts ein Manko, das es mir nicht erlaubte, als Schweizerin geboren zu werden: Mein Vater ist Ausländer.

Er ist einer jener Italiener, die in den 50er Jahren in die Schweiz gekommen sind, um eine Arbeit zu finden. Sein Leben kam etwas anders als geplant heraus und er hat sich in der Schweiz niedergelassen, mit einer Schweizerin eine Familie gegründet und zeitlebens in der Schweiz gearbeitet. Nachdem er den grössten Teil seines Lebens in der Schweiz verbrachte, ist er auch dort gestorben und beerdigt worden. In diesem Fall, sagte das Recht, sei es nicht recht, dass man als Schweizerin geboren wird, man kam als Ausländerin zur Welt. Im Volksmund nennt man das eine Seconda.

Ich weiss auch nicht, warum ich das hier schreibe, liebe Leser. Doch, ich glaube, es hat etwas mit der Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative der SVP zu tun. Es lag mir einfach daran, Ihnen das noch vor der Abstimmung mitzuteilen, und ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Karriere, Frau?

Das Stellenangebot kam zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Ich hatte soeben die höhere Fachausbildung zur dipl. Buchhalterin bestanden und meinen Job gekündigt, um drei Monate mit dem Motorrad gen Westen zu touren. Meine Güte, heute, mit 47 Jahren, kommt mir sofort der Gedanke: Wie jetzt, den Job gekündigt, ohne einen neuen zu haben?! Doch damals, mit 26, gut ausgebildet und in einem Land lebend, in dem das Wort Arbeitslosigkeit nur noch ein Schreckgespenst für Nachkriegsgenerationen war, konnte ich das getrost wagen.

Nun, ganz so war es auch nicht. Da ich zu jener Zeit als Single lebte, hatte ich meine Bewerbungsunterlagen einem in der Branche bekannten Stellenvermittler zukommen lassen. Die Abmachung war, dass er während dieser drei Monate eine geeignete Stelle für mich sucht, damit ich in nützlicher Frist nach der Rückkehr wieder arbeiten konnte. Ich war voll motiviert und hatte einen gut gepackten Rucksack an Wissen und Erfahrung für einen neuen, anspruchsvolleren Job.

Erstens kommt es anders, und zweitens geht es schnell. Noch bevor ich am Packen der Reisetasche war, kam der Anruf: »Ich habe einen exzellenten Job für Sie! Genau das, was Sie wollen: Finanzbuchhaltung in einem Produktionsbetrieb, Monatsabschlüsse, Konzernreporting, Mehrwertsteuer, Liquiditätsplanung, Budget etc. Spannender geht’s nicht!« »Und wo ist der Haken?« »Sie müssen in zwei Wochen anfangen.« »Dann ist es unmöglich, in zehn Tagen bin ich weg.« »Das Vorstellungsgespräch ist übermorgen.«

So ein Mist! Es WAR die Stelle, die ich suchte. Obendrein kam auch noch der damalige Vorgesetzte, zu dem ich ein sehr respekt- und vertrauensvolles Verhältnis hatte, und sagte: »Sandra, wenn Du den Job nicht annimmst, vergibst Du Dir was.« »Woher willst Du das denn wissen?« Ich hatte ihn zwar als Referenz angegeben, ihm von dem Angebot aber nichts Genaueres erzählt. »Na, man will sich doch ein Bild davon machen, wo man seine Leute hin gibt, oder? Ich hatte soeben ein langes Gespräch mit Deinem zukünftigen Chef und wir sind uns einig, dass Du die richtige Person für diese Aufgabe bist.« Punkt.

Die Sache war also klar, das Angebot war gut und ich war entscheidungsfreudig. So ein unbezahlter Urlaub würde sich bestimmt irgendwann nachholen lassen. (Tatsächlich sollte das dann erst 25 Jahre später der Fall sein.)

Ich hatte mich schon nach kurzer Zeit recht gut eingearbeitet, der neue Chef war toll, forderte viel, auf eine fördernde Art und Weise. Was ich nicht wusste, konnte ich nachfragen, er erklärte mir die Zusammenhänge oder gab mir einen Tipp, wie und wo ich Antworten auf meine Fragen finden würde. Ich ließ mir die Fabrik zeigen, die Produktionsprozesse, jede einzelne Maschine. Ich sprach mit den Menschen, die ihren Arbeitstag in der Fabrikhalle verbrachten und lernte, ihnen und den Produkten, die sie herstellten, eine hohe Wertschätzung entgegen zu bringen. Haben Sie zum Beispiel gewusst, dass jeder einzelne Henkel an einer Porzellantasse von Hand dort angebracht wird?

Diese Neugier und der Wissensdurst, mit dem ich auf die neuen Kolleginnen und Kollegen zuging, war wohl für einige überraschend. Die Fabrikationshalle war durch eine Straße von den Bürogebäuden getrennt und die räumliche Trennung fand auch in den Köpfen der Menschen statt. Einige dachten wohl, ich sei ein junger, übermotivierter Schnösel und andere fanden es schade um ihre Zeit, mir etwas zu erklären, das ich (als Frau) sowieso nicht verstehen würde. Die meisten Mitarbeiter waren jedoch erfreut, dass jemand »aus der Verwaltung« sich für ihre Arbeit interessierte, und gaben bereitwillig Auskunft. Es sind daraus gute Ideen entstanden, wie man das eine oder andere verbessern konnte und ich brachte die Erkenntnisse im Finanzbericht erläuternd ein.

So vergingen ein paar spannende Monate, bis mein Vorgesetzter mich um ein Gespräch bat. Er teilte mir mit, dass der Konzern einige Umstrukturierungsmaßnahmen beschlossen hätte, die auch das Finanzwesen betreffen würden. Er selber sei neu nicht mehr für die Finanzen, sondern für die Logistik zuständig und er habe der Geschäftsleitung vorgeschlagen, mich zur Leiterin des Finanz- und Rechnungswesens zu ernennen. Er traue mir das zu und zudem sei er im Notfall bei Fragen ja noch da. Glauben Sie mir, ich habe keine Ahnung, welcher Teufel mich geritten hatte, als ich ohne zu überlegen selbstbewusst zu verstehen gab, dass ich mich durchaus für fähig hielt, die Aufgabe zu übernehmen.

Keine Sekunde hatte ich daran gedacht, dass diese Position nicht nur fachliche Anforderungen an mich stellen würde. Ich war naiv genug zu glauben, dass die Aufgaben zwar anspruchsvoller werden, alles andere jedoch einfach so weiter gehen würde. Es lag außerhalb meiner untaktischen Vorstellungskraft, dass sich das Bild der Mitarbeiter über meine Person dadurch ändern könnte, war ich doch immer noch die gleiche.

Was beschlossen war wurde kommuniziert, Frau S. wird befördert und freut sich auch noch darüber. Eine selbstbewusste junge Frau, die sich für fähig hält und mit triumphierendem Lächeln durch die Gänge marschiert, weil sie »es geschafft« hatte wie Melanie Griffith als Tess McGill in »Die Waffen der Frauen«. Ob sie einen Harrison Ford zu Hause hatte, der ihr morgens das Pausenbrot schmiert?

Zu jener Zeit nannte man das eine Karrierefrau. Diese Bezeichnung war untrennbar verbunden mit anderen Ausdrücken wie »sich hoch schlafen« (hat sie sich nicht schon von Anfang an bei allen angebiedert?) oder »Günstling« (wie hat sie es wohl geschafft, »den Alten« zu blenden?). Eine Frau im besten Alter um Kinder zu kriegen sollte sich eher einen Mann suchen, mit dem sie das Projekt Familie verwirklichen konnte. Dass sie keinen hatte, sprach ebenfalls Bände.

Die Veränderungen fanden im Kleinen statt. »Gehst Du jetzt trotzdem noch Deinen Kaffee selber holen?« »Wechselst Du Dein Büro ins Hauptgebäude?« Die Büros des Finanz- und Rechnungswesens waren in einer Holzbaracke untergebracht, einem ewigen Provisorium. Mir wurde klar, dass dies von einigen als Klasseneinteilung angesehen wurde, was überhaupt nicht stimmte. *Die mehr besseren« durften im Hauptgebäude sitzen. »Dürfen wir Dir jetzt noch Du sagen?« »Jetzt setzt Du Dich in der Kantine wohl nicht mehr an unseren Tisch.« Die Fragen hatten einen Unterton, der mich total überraschte. Die waren gar nicht scherzhaft gemeint, was ich schon bald am Kantinentisch feststellen sollte. Ging ich nicht Punkt zwölf Uhr mit, weil ich noch etwas erledigen wollte, war das plötzlich ein Zeichen, dass ich nicht mehr mit ihnen zusammen gehen mochte. Gespräche verstummten, wenn ich mich später dazu setzte.

Am meisten geprägt hat mich jedoch etwas anderes. Ich brütete gerade konzentriert über dem monatlichen Finanzbericht, als ein Poltern auf die Holzstiegen der Bürobaracke fegte. Jemand riss die Eingangstüre auf, schritt in mein Büro und baute sich dort auf. Der ältere, braun gebrannte Mann in Freizeitkleidung stemmte seine Fäuste in die Hüften und holte tief Luft: »Sie wurden zur Prokuristin befördert??!!« schnaubte er und ließ seinem Ärger mit hochrotem Kopf weiter Lauf: »Was haben Sie überhaupt für eine Ausbildung??«

Ich war total perplex. Da stand ein Mann, den ich noch nie getroffen hatte, und griff mich an. Seine Haltung und die Worte, die er ausposaunte, machten unmissverständlich klar, dass er mich für eine Fehlbesetzung hielt und signalisierten, dass ER, hätte er ein Mitspracherecht gehabt, sich nicht für mich entschieden hätte. Mir gingen in nur einer Sekunde tausend Gedanken durch den Kopf. Mir war klar, dass es sich wahrscheinlich um meinen Vorgänger handelte, der kurz vor meiner Anstellung pensioniert worden war. Ich hatte schon viel von ihm gehört und wusste, dass er die Abteilung patriarchalisch geführt hatte und ein Mensch war, der keine Fehler machte.

Ich wusste überhaupt nicht, wie ich reagieren sollte. In den umliegenden Büros war es mucksmäuschenstill geworden. Das Einzige, was mir in den Sinn kam, war: »Guten Tag, ich bin Sandra S., Sie müssen Herr Z. sein, oder?« Jetzt war es an ihm, perplex zu sein. Da saß eine Person in seinem ehemaligen Büro, an seinem ehemaligen Schreibtisch an seinem ehemaligen Computer, neben seinen ehemaligen Untertanen und hatte keine Ahnung, mit wem sie es hier zu tun hatte und stand nicht mal auf, um ihm den Respekt zu erweisen, den er verdient hatte.

»Glauben Sie im ernst, Sie könnten diesen Laden hier führen und Vorgesetzte von Mitarbeitern werden, die so lange hier arbeiten, wie Sie alt sind, Frau S.?« Ein neuer Aspekt, den ich mir nicht überlegt hatte. »Sie werden mich noch kennen lernen, Frau S. Ich bin im Stiftungsrat der Personalfürsorgestiftung, deren Bestehen man umsichtigen Führungskräften verdankt, die in der Lage waren, die Zukunft zu gestalten. Das war zu jener Zeit, als alles seine Ordnung hatte.« Meine Position brachte es mit sich, das Präsidentenamt dieser Stiftung zu übernehmen. Ich fand es jetzt doch besser, mich auch zu erheben und stellte mich vor ihn. »Das freut mich, Herr Z., ich werde nächste Woche die Einladung zur Sitzung verschicken, die bekanntlich in drei Wochen stattfinden wird.« »Auf Wiedersehen, Frau S.« »Auf Wiedersehen, Herr Z.«

Man erzählte mir später, Herr Z. wäre fast dreißig Jahre für den Betrieb tätig gewesen und hatte sich »hochgearbeitet«. Zu jener Zeit wurde einem vor der Prokura die Handlungsvollmacht erteilt, und dies erst nach mindestens 10 Jahren Dienst. Die Prokura hatte man ihm erst im letzten Drittel seiner Tätigkeit erteilt und das war eine sehr große Ehre gewesen. Nun, ich möchte auf keinen Fall den Wert jahrelanger Loyalität mindern, Ehre, wem Ehre gebührt.

Ich selbst hatte das mit der Prokura so verstanden, dass ich die brauche, um die an dieser Position notwendigen Unterschriften leisten zu können. Es ging um meine Funktion, um Entscheidungen, die zu treffen waren, und Dokumente, die ich zu unterzeichnen hatte. Mir war klar, dass mein Arbeitgeber mit damit großes Vertrauen entgegen brachte – aber Ehre?

Ich erkannte jedoch, dass die Firma im Umbruch war, alte Strukturen wollten durchbrochen sein und neue Wege entdeckt werden. Ich war Teil dieser Veränderungen und begriff, dass ich nicht zuletzt deshalb mit ins Boot genommen wurde. Es sollten noch viele Herausforderungen auf mich zukommen und ich hatte mir geschworen, sie allesamt so anzugehen, wie ich es mit Herrn Z. gemacht hatte: Freundliche Offenheit, ehrliches Interesse und vor allem: Mich selber bleiben. Ich wollte mich nicht verbiegen, hatte keine Lust, mich von Drohungen aus dem Konzept bringen zu lassen.

Wie sich gezeigt hat, war das ein guter Entschluss und ich muss Herrn Z. dankbar sein, dass er mir dabei »geholfen« hat.

Der Schnurrbart auf Nietzsches Bett

Das Engadin lag in Neuschnee gebettet und schlief unter funkelndem Sternenhimmel. Stille hatte sich über die Täler ausgebreitet, unbemerkt verstrich die blaue Morgenstunde und begrüßte mutterseelenallein das farbenspendende Tageslicht. Nietzsches Schnurrbart, in weißen Gips gegossen, lag wie eine riesige Bettdecke auf dessen ehemaligem Schlaflager in Sils Maria.

Man kann es mir also nicht verübeln, dass ich diesen bleiernen Frühmorgen verschlief. Nun, der nächste Bus hatte auch gereicht, um rechtzeitig im Nietzsche-Haus in Sils Maria anzukommen. Die kleine Tour durch den Wirkungsort des Philosophen war jedoch auf später verschoben. Ich möchte erwähnen, dass ich mich zuvor nie mit Nietzsche auseinandergesetzt habe und dieser Bericht keinen Anspruch auf wissenschaftlichen Wert, Richtigkeit oder Vollständigkeit erhebt.

Dr. Peter André Bloch begrüßte die Besucher herzlich und man sah ihm die Freude über das Interesse an der Führung an. Bloch ist Germanist und wohnt im »Unterland«, wie die Engadiner sagen. Schon sein eigenes Leben und Wirken wären einen Blogbeitrag wert. Er hat sich sehr um die Kultur verdient gemacht und seine „Werkstatt-Gespräche“ sind ein Begriff. Er hat diese Form von Auseinandersetzung mit Literatur und Philosophie schon als Freund von Dürrenmatt und später für seine Studenten umgesetzt. Noch heute kann man im Nietzsche-Haus Zimmer mieten und eine ähnliche Form davon praktizieren. Bloch setzt sich seit vielen Jahren für die Stiftung Nietzsche-Haus ein, und das mit ungebrochenem Elan. Er feiert heuer den 79. Geburtstag.

Aber jetzt bin ich abgeschweift.

Bloch ist fasziniert von Nietzsche und referierte leidenschaftlich über dessen Leben und Werke. Immer wieder baute er Textpassagen sowie Kompositionen und Lieder ab CD in seine Erzählungen ein. Die etwa 20 Besucher saßen recht eng beieinander in der kleinen Stube des alten Hauses, es war eine „heimelige“, entspannte und fast familiäre Atmosphäre. Schon als Kind vermochten mich Geschichtenerzähler in andere Welten zu versetzen, Bloch gelang dies mit seiner lebhaften Art ebenfalls spielend.

Ich lauschte der zauberhaften Musik, die Nietzsche bereits als Junge komponiert hatte und einigen Liedern und Texten, die er als Jugendlicher schrieb. Ich erfuhr über seine Familie, davon, dass er schon sehr jung in die Fußstapfen des viel zu früh verstorbenen Vaters trat und dass Frauen in seiner Jugend wohl die Hauptrollen spielten. Beeindruckend, dass er im Alter von (wenn ich mich recht erinnere) 24 nach Basel kam, um dort einen Lehrauftrag anzunehmen.

Nietzsche verbrachte in Sils Maria sieben Sommer. Er mochte das Klima und die Stille. Zum ersten Mal in St. Moritz angekommen, wollte er offenbar postwendend umkehren, weil es nach seinem Geschmack zu viele Menschen hatte. Am Bahnhof waren etwa zehn Personen ausgestiegen, man stelle sich die heutigen Besucherzahlen vor!

Natürlich liebte er die einzigartige Natur und unternahm lange Wanderungen, alles hinlänglich bekannt. Die Augen damals bereits empfindlich getrübt, notierte er seine Eindrücke unterwegs schier blindlings in Notizbücher. Diese schickte er nach Venedig, wo sie Heinrich Köselitz ins Reine schrieb und wieder ins Engadin zurück sandte.

Die bescheidene Kammer im Haus hielt Nietzsche stets abgedunkelt. Er saß dort an seinem Tisch, auf dessen abgenutztem Blatt ein tannengrünes Wolltuch lag. In sich gekehrt und den Gedanken zugewandt, konnte er in Ruhe über Moral, Macht und Verantwortung nachdenken und schreiben.

Heute stehen in der Kammer wieder die Original-Möbel, die der umtriebige Peter Bloch (nebst vielen anderen Dingen wie Originalschriften und Briefe etc.) in den letzten 45 Jahren beschaffen konnte.

Nach rund 1 1/2 Stunden (die Zeit verging im Flug) gab es noch eine Führung durch das Haus. Das muss man sich ansehen! Man trifft auf viele „alte Bekannte“, große Namen und große Geschichten, die ich unkommentiert nicht aufzählen möchte. Unzählige Dokumente erzählen aus jener Zeit und es gibt eine prächtige Bibliothek, die man für Studien nutzen darf. Ein paar „Bewohner“ arbeiteten konzentriert an diversen Themen. Ich kann mir gut vorstellen, dass Nietzsche Freude an der Lebendigkeit seiner Gedanken hier empfinden könnte. Oder auch nicht, war er doch gleichwohl ein resoluter Eigenbrötler.

Unerwartet begegnete ich Anne Frank und ihren Tagebüchern. Als Teenager hatte ich sie gelesen und als beeindruckende Art und Weise von Geschichtsunterricht aufgenommen. Das ging mir nah und mir wurde damals bewusst, was die Generation vor mir im Krieg durchlitten hatte.

Anne Frank hatte eine Tante im Engadin. Die Ausreise dort hin war ihr allerdings verwehrt, aus bekannten Gründen. In den Tagebüchern schrieb die junge Frau von den Sommerferien, die sie im Engadin verbrachte. Sie sehnte sich danach, „wenn das alles hier vorbei ist“, ins Engadin zu reisen. In St. Moritz wollte sie Lippenstift und Seidenstrümpfe kaufen und eine berühmte Schauspielerin werden. Unbedingt wollte sie lernen, Schweizerdeutsch zu sprechen, um eine Rolle in einem Schweizer Heimatfilm zu bekommen. Leider ein unerfüllter Lebenstraum, ein Entwurf, der sich nicht ins Reine geschrieben hat. Ich war sehr berührt und auch jetzt, wo ich darüber schreibe, spüre ich diesen Kloß im Hals.

Am Schluss der Führung habe ich mir in der Bibliothek einige dünne Bände gekauft (keine Wälzer, die ich dann doch nicht lesen würde). Eine „Philosophische Einführung“ – weil man mir mal sagte, Nietzsche sei immer ein paar Gedanken wert. Einen Gedichtband, eine kleine Auswahl mit den bekanntesten Aphorismen zum Thema Mensch und schließlich „Nietzsche über die Frauen“ (war ja klar, oder?).

Ich habe für mich mitgenommen, dass der Mensch ein Entwurf ist. Einer, der seine eigene Sprache finden soll und sich selbst verwirklichen. „Werde, wer du bist“. Ich stelle mir das ein bisschen wie ein offenes Buch mit weißen Seiten vor. Und wer möchte nicht auch gern seine eigene Sprache finden?

Ach, jetzt hätte ich fast das Wichtigste vergessen – das mit dem Schnurrbart auf Nietzsches Bett. Das kam nämlich so: Vor ein paar Jahren berichtete eine aufgeregte Besucherin Herrn Bloch, die Nietzsche-Kammer sei von innen abgeschlossen und man höre die Bettfedern ächzen. Belustigt entgegnete Bloch, da könne man wohl nichts machen, die »Übeltäter« müssten ja irgendwann das Schlafgemach wieder verlassen. Das taten sie nach unverbriefter Zeit. Es kam an den Tag, dass es sich um ein Flitterwochen-Paar aus Italien handelte. Die Frischvermählten erhofften, der Welt dereinst ein kluges Kind zu schenken, und setzten dabei voll auf Nietzsches Geist. Wer würde diesem nicht zutrauen, dass er das hinkriegt, war Nietzsche doch ohne Fehler – zumindest nach Blochs voreingenommener Meinung. Wie auch immer, man erachtete es anschließend als angebracht, das Bett des Philosophen mit dessen in Gips gegossenen Schnurrbart zu belegen.

Und so wären in dem alten Haus in Sils Maria noch viele Geschichten zu entdecken. Ich war nach diesen zwei Stunden sehr berührt, aufgewühlt und begeistert. Als ich das Gebäude verließ, war es ein bisschen, als ob ich wieder in eine andere Welt eintreten würde.

Warum Lena Gott nicht mochte

Die kleine Lena schlich – im Pyjama und mit ihrem Teddy in der Hand – mucksmäuschenstill aus dem Schlafzimmer. Sie musste leise sein, um niemanden aufzuwecken. Trotz Angst vor der knarrenden Stiege am Ende des Estrichs huschte sie in den unteren Stock. Sie öffnete die dick mit Farbschichten überstrichene Wohnungstür und tappte auf Zehenspitzen blindlings durch Korridor und Stube neben Großvaters Bett. »Opa, ich kann nicht einschlafen.«

Eigentlich war es Opas und Omas Bett, aber Oma schlief nicht mehr da, sie war vor einiger Zeit in den Himmel umgezogen. Zur Sicherheit, falls sie im Traum mal zu Besuch kommen wollte, ließ Opa die Bettseite neben ihm stets angezogen und bettete Laken und Decke jeden Morgen und Abend genauso, wie er es auf seiner Seite auch tat. Und manchmal, wenn Lena nicht einschlafen konnte, durfte sie sich auf Omas Seite legen.

»Dann ist ja gut, dass du zu mir kommst, Lenchen. Sehr tapfer von dir, so alleine. Komm, schlüpf unter Omas Decke.« Opas gütige Augen blickten von der Bücherseite auf, die er gerade las.

Das ließ sich Lena nicht zweimal sagen. Zusammen mit ihrem Teddy kroch sie auf Omas Bettseite und wandte sich Opa zu. »Zeigst du sie mir nochmal, Opa?« »Ja, natürlich, Lenchen,« meinte Großvater und reckte sich nach dem in Silber gerahmten Foto auf seinem Nachttisch. »Schau nur, wie schön deine Oma war, und die Liebste dazu.« Lena konnte dieses Bild immer wieder bestaunen, jedes Mal entdeckte sie etwas Neues und noch Schöneres an ihrer Oma. »Singst du mir ihr Lied, Opa? Du weißt schon, das zur Nacht.« Großvater stellte das Bild sorgfältig auf die weiße Häkeldecke zurück, dann deckte er Lena ebenso sorgfältig zu und begann leise zu singen:

Guten Abend, gut`Nacht,
mit Rosen bedacht,
mit Näglein besteckt,
schlupf unter die Deck:
Morgen früh, wenn Gott will,
wirst du wieder geweckt.

»Opa?«
»Ja, Lenchen?«
»Ich mag Gott nicht.«
»Aber Lenchen, weshalb denn nicht?«
»Weil er Oma nicht mehr geweckt hat.«
»Ach, Lenchen, das verstehe ich. Da mochte ich ihn auch eine ganze Weile lang nicht mehr.«
»Schlaf gut, Opa, ich hab dich sehr lieb.«
»Schlaf schön, Lenchen, ich hab dich auch sehr lieb,« schmunzelte Großvater und sang leise weiter:

Guten Abend, gut` Nacht,
von Englein bewacht,
die zeigen im Traum
dir Christkindleins Baum.
Schlaf nun selig und süss,
schau im Traum `s Paradies.

Ein Semesterende in 5 Teilen

1. Lehrerwahl
Ausgerechnet Pitzi Blödmann! Das hatte ihr gerade noch gefehlt, dass sie die Projektarbeit vor den Sommerferien mit diesem großkotzigen, ignoranten Kerl zusammen erarbeiten soll. Es war doch von vornherein klar, dass die ganze Arbeit ihr anhaften würde. Der blond gelockte Strahlemann hatte bestimmt nicht vor, seine wertvolle Zeit damit zu vergeuden, einen Tag lang draußen die Vögel am Bach zu beobachten. Geschweige denn, anschließend eine Klausurarbeit inklusive Text und Zeichnungen über das Gesehene zu gestalten. Und schon hielt ein besonders lustiger Klassenclown ein eiligst gekritzeltes Blatt Papier hoch: »Vögel(n) am Bach«. Ha ha ha. „Mit DER doch nicht“ bezeugte sein spöttischer Blick in die Schulklasse des Gymnasiums, als der Lehrer die Zuweisung der Themen auf die von ihm festgelegten »Paare« bekannt gab.

Anna hatte nicht vor, dieses Spiel mitzumachen, zudem konnte sie auf die Kränkungen gut verzichten. Also schnappte sie ihr Notizbuch, das Zeichenheft und die Stifte, schlüpfte in ihre Jeansjacke und machte sich auf zum nahe gelegenen Bach. Ihre Lieblingsstelle lag ganz in der Nähe der alten Holzbrücke, da, wo der Wasserlauf verzweigte, um etwa hundert Meter weiter vorne wieder zusammenzufließen. An diesem Abschnitt war die Böschung nicht so steil und man konnte es sich recht bequem machen. Wenn der Bach nur wenig Wasser führte, gelang es mit einem beherzten Sprung sogar, die kleine Insel, die an jener Stelle entstanden war, zu erreichen. Bestimmt würden da einige Vögel auftauchen, über deren Verhalten sie ein paar Seiten schreiben konnte. Das mit dem Zeichnen machte ihr weit mehr Sorgen, ihre ungelenken Zeichenstriche ließen den Betrachter selten erkennen, was sie da mit Farbstiften zu Papier hatte bringen wollen. Sie legte sich ins Gras und fing an, sich Gedanken über die blöde Projektarbeit zu machen. „Vögel am Bach“, das würde kein Knüller werden. Während sie ihren Gedanken nachhing, war es still geworden um sie herum.

2. Vögel am Bach
„Na, Anna, kommst du gut voran?“ Blondlocke Pitzi war aufgetaucht und setzte sich neben sie. „Was tust DU denn hier?“ Sie war überrascht, dass er sie gefunden hatte, oder eher erstaunt, dass er sich überhaupt auf den Weg gemacht hatte, sie zu suchen. „Na, ist doch schön hier, da wird man sich den Tag schon vertreiben können.“ „Ja klar, und wer schreibt die Arbeit?“ „Renk dich ein, wir haben genug Zeit, lass uns das gemütlich angehen.“ Sie verkniff sich eine trotzige Antwort und fing an, nach dem ersten Vogel Ausschau zu halten.

„Hast du Zigaretten?“ Seine Frage erstaunte sie wenig, er war ein Schnorrer. „Ja, klar. Du nicht?“ „Jetzt sei doch nicht so, kriegst sie zurück.“ Was soll’s, dachte sie, auf die eine Zigarette kam es auch nicht an. So pafften sie schweigend vor sich hin, sichtlich bemüht, die Lungenzüge cool aussehen zu lassen und die aufkeimenden Hustenreize tunlichst zu unterdrücken.

„Na ihr zwei, Schule schwänzen, hä?“ Der Alte war mit seinem Hund unterwegs und erschreckte die beiden gehörig. Geschickt ließ Anna ihre halb gerauchte Zigarette verschwinden. Pitzi fing sich sofort und machte weiter einen auf lässig. „Nö, Vögel beobachten, Projektarbeit heißt das heute!“ Ein selbstbewusster Pitzi wusste sich eben stets zu helfen. Der Alte lachte vor sich hin und blickte über die Wiese zu seinem unweit gelegenen Hof. Er sah etwas verschroben aus in seiner zu kurzen Hose, in welcher ein helles Unterhemd steckte, und die von einem ausgeleierten Hosenträger gehalten wurde. „Vögel, von wegen. Heute gibt es hier doch nur noch Piepmätze! Früher, als der Bach nicht reguliert war, trat er regelmäßig über die Ufer und schwemmte die Felder bis zu meinem Hof. Überall Wasser. Da gab es jede Menge Störche und Fischreiher zu sehen! Die hatten ein Festmahl, so viele Frösche wie zu holen waren.“ „Echt?“ Jetzt war Pitzi offenbar interessiert. „Dann war der Radweg ja gar nicht mehr befahrbar, oder?“ „Radweg! Junge, damals gab es keinen Radweg, der wurde erst mit dem Damm gebaut. Ja ja, das sah hier alles ganz anders aus.“

Anna hatte den alten Mann mit seinem Hund schon oft hier gesehen, jedoch noch nie mit ihm gesprochen. Er war ihr immer etwas verstockt vorgekommen mit dem schlurfenden, gebückten Gang und einem kalten Stumpenrest im Mund. Jetzt fand sie ihn eigentlich recht sympathisch und das brachte sie auf eine Idee. „Würden Sie uns mehr erzählen aus dieser Zeit? Für die Projektarbeit?“ Pitzi staunte und schaute sie fragend an. „Na,“ flüsterte sie ihm zu „hat ja niemand gesagt, wir müssen eine Gegenwartsgeschichte schreiben, oder?“

„Wenn ihr meint, von mir aus. Heute ist Freitag, da bäckt meine Frau immer einen Kuchen. Kommt doch mit, dann trinken wir dazu einen Tee und ich zeige euch die alten Fotos.“ Anna sagte begeistert zu und Pitzi war ganz still geworden.

3. Anderswelt
Pitzi fühlte sich in der vorsintflutlichen Küche sichtlich unwohl. Er war den Rauch vom Holzofen nicht gewohnt und die vom Ruß geschwärzten Wände fand er gruselig. Aus dem Stall drang Viehgeruch ins Wohnhaus und in der Küche schwirrten Fliegen umher. Die Bäuerin hatte tatsächlich einen Kuchen gebacken und kochte nun Teewasser, während der alte Bauer in der Wohnstube das Holzbuffet nach den Fotos durchsuchte. „Ich heiße Anna, und das ist Pitzi, äähh Peter. Wir schreiben eine Klausurarbeit über die Vögel am Bach. Es ist wirklich sehr nett von Ihnen, dass Sie uns dabei helfen.“

Inzwischen hatte Pitzi sein Zeichenbuch gezückt und mit ein paar wenigen Bleistiftstrichen den Holzofen mit der dampfenden Pfanne darauf skizziert. Anna schielte über seine Schultern und stupste ihn frech an. „Hey, du kannst ja richtig gut zeichnen, hätte ich dir gar nicht zugetraut!“ „Na, wenn ich an dein Gekritzel im Zeichenunterricht denke, mache ich die Zeichnungen für unsere Arbeit wohl lieber selber.“ „OK,“ sah sie ein, „1:0 für dich.“

Der Bauer setzte sich zu ihnen an den Küchentisch und sortierte ein paar Fotos aus. »Hier, das muss etwa dreißig Jahre her sein. Diese Bilder hat der Zeitungsfotograf damals gemacht und sie uns anschliessend geschenkt.« Die Schwarz-Weiss-Fotos steckten in einer Kartontüte und waren bereits leicht vergilbt. »Das Wasser hat die kleinen Fische bis auf das Feld geschwemmt. Die Graureiher konnten die zappelnden Tierchen im Spaziergang schnappen. Und hier, gleich fünf Störche haben sich den Bauch neben unserem Stall vollgeschlagen.« Als die Bäuerin eines der Fotos in die Hand nahm, blieben ihre trüben Augen daran hängen und ein Lächeln erhellte kurz ihr Gesicht. Sie streifte die Fingerkuppen sanft über das Bild und sagte »Schau, Kind, da stehst du vor dem Haus, mit dem Bäri.« Anna und Peter schauten erst die alte Frau und dann einander verwundert an. Der Bauer zog sein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und und als er sich damit die müden Augen rieb, war es still geworden in der Küche.

4. Zur Sache
Einen halben Apfelkuchen später hatten sie genug Material für die Arbeit zusammen und der Bauer gab ihnen sogar ein paar der Fotos mit. Sie verabschiedeten sich dankend beim alten Ehepaar und gingen zurück zum Bach. „Siehst Du, alles easy. Ich sag doch, man muss so was langsam angehen.“ „Ja ja, alles easy. Vor allem der coole Obermacker aufm Bauernhof. Wie erklärst du das bloß deiner Mutti, dass du nach Kuhstall riechst?“ Kaum hatte sie es ausgesprochen, tat es ihr ein wenig leid, dass sie ihn wieder pikste. Er schien es gelassen zu nehmen, pflückte ein Gänseblümchen und legte sich in die Wiese. „Sie liebt mich, sie liebt mich nicht. Sie liebt mich, sie liebt mich nicht. Sie liebt mich.“ „Was soll das denn, machst du hier jetzt einen auf romantisch oder was?“ »Du bist zickiger, als ich dachte.« Das saß.

»Ist sowieso spät geworden, ich mach mich auf den Heimweg.« »Spät ist um die Zeit nur für Streberinnen. Wir können das nächste Woche zu Papier bringen.« »Ach, und was hast du vor? Gänseblümchen pflücken?« »Lass uns eine rauchen.«

»Hast du es schon mal getan?« »Was?« »Na, was schon!« »Wieso sollte ich das ausgerechnet dem Obermacho meiner Klasse erzählen?« »Du bist also nicht nur zickig, sondern auch verklemmt.« »Dann zeig mir, wie’s geht, und erzähl erstmal von dir. Wie war’s denn so mit Nikita, hm?« Er nahm einen Zug der Zigarette, drückte den Stummel zwischen Daumen und Mittelfinger zusammen und spickte ihn in den Bach. Nachdem er den Rauch geräuschvoll durch die rund geformten Lippen gepresst hatte, verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und legte sich ins Gras, den Blick in den blauen Himmel gerichtet. Er wandte seinen Kopf auf ihre Seite und sah sie unvermittelt an. »Gar nicht.« »Wie bitte?? DAS Gesprächsthema an der Schule seit über einer Woche – und es war nichts? Du willst mich doch veräppeln!«

Blondlocke blinzelte in den Sommerhimmel und zuckte mit der Schulter: »Die Leute reden gerne, das weißt du genau.« »Jetzt hör aber auf, weder du noch Niki haben das abgestritten, und jetzt willst du behaupten, es war eine Zeitungsente. Im übrigen geht es mir am Arsch vorbei, mit wem du ins Bett steigst, das ist deine Sache. Ich will nur nicht zum Tagesgespräch werden, wenn du morgen irgendeinen Mist rausposaunst. That’s all.«

»Niki und ich waren grad so richtig in Fahrt gekommen mit rumknutschen. Just in dem Moment, als ich an ihrem Reißverschluss rummachte, kam mein kleiner Bruder ins Zimmer.« »Kleinen Brüdern kann man Geld für ein Eis geben, dann verziehen sie sich wieder, oder?« »Er war aufgeregt, weil er im Garten eine Blindschleiche gefunden hatte. Die brachte er mit nach oben, um sie mir zu zeigen. Niki kreischte angewidert und machte sich aus dem Staub. Was weiß ich, was sie mit ihren auf Neuigkeiten wartenden Freundinnen tratschte. Mich hat keiner gefragt.«

»Tut mir echt leid, wenn ich dich auslache, aber du musst zugeben, die Geschichte ist amüsant.« »Es spielt so oder so keine Rolle, nach diesem Semester bin ich wieder weg.« »Wieso das denn, lässt Du das letzte Schuljahr etwa aus?« »Nein, ich absolviere es nur nicht hier. Meinen Eltern gefällt es wohl doch nicht auf dem Land, wir ziehen um nach Basel.« »Cool! Da wär ich sofort dabei, freust du dich etwa nicht?« »So cool ist es nicht, alle zwei Jahre umzuziehen, glaub mir.«

Peter wandte sich ihr zu und stützte sich lässig auf den Ellbogen. Er setzte sein verschmitztes Grinsen auf, zwischen den Zähnen einen Grashalm, und sah verdammt gut aus. »Heute wär ein Wetter, um Dichter zu zeugen, vielleicht möchtest du ja die Gelegenheit ergreifen?.« »Hau bloß ab!« Und grade, als sie dies sagte, war es still geworden am Bach.

5. Semesterende
»Es geschehen noch Zeichen und Wunder!« Der Biologielehrer eröffnete die Stunde – es war die letzte der Projektwoche und läutete somit die Sommerferien und den Semesterwechsel ein. Anna hatte nie verstanden, wen er mit seinen doofen Sprüchen beeindrucken wollte, bei ihr klappte es auf jeden Fall nicht. Heute würden sie die Klausurarbeiten zurück bekommen und die Noten dazu erfahren. In Biologie bedeutete das stets ein Spießrutenlauf, der Lehrer genoss es sichtlich, die jeweils besten Arbeiten gegen die miserabelsten auszuspielen. Anna war in Bio Mittelmaß und ganz glücklich darüber. So musste sie ihre Arbeiten nie vor der Klasse präsentieren und wurde dafür auch nicht klein gemacht.

»Einige von euch haben mich überrascht – ich hätte nicht gedacht, dass ihr euch so dreinhängt in die Arbeiten. Nun, es gibt auch jene, bei denen ich überhaupt nicht überrascht bin, aber das wird euch nicht überraschen.« Die Klasse nahm die für den Lehrer typischen Bemerkungen mit Seufzern und theatralischen Augenrollern zur Kenntnis. Angespannt waren nur jene Schüler, deren Versetzung ins nächste Semester von dieser Note abhängig sein würde. Wie Peter zum Beispiel.

Die Inszenierung begann. »Martin und Evelyn zum Thema Im Bienenstock. Keine Überraschung.« Durchgefallen. »Petra und Marion – Feldblumen. Immerhin, der gute Wille ist zu erkennen.« Könnte eine genügende Note bedeuten. Und so ging es weiter, der Lehrer verteilte die Arbeiten mit entsprechenden Kommentaren an die Schüler, angefangen bei der schlechtesten Note. Und gerade, als Anna und Peter sich fragend anschauten und dachten, der Lehrer hätte ihre Arbeit vergessen, da trat der Biolehrer vor Peters Pult.

»Peter und Anna zum Thema Vögel am Bach.« Bühnenreife Pause. Kindisches Kichern in der Klasse. Austausch vielsagender Blicke. »Grandios! Seriöse Recherche. Dokumentarisch hinterlegt. Großartige Zeichnungen. Fabelhafter Text. Eine glatte Sex!« Anna wich das Blut aus dem Gesicht. Sie sah buchstäblich alles den Bach runter gehen, genau so, wie sie es erwartet hatte. Anna wagte einen Blick in die Runde, die sich auf den Spott vorbereitete. Tuscheln. Als sie ihren Blick Peter zuwendet, schmunzelt der Macho zufrieden vor sich hin. Als er verheißungsvoll mit der rechten Augenbraue zuckte, war es still geworden im Klassenzimmer. 

 

Am Rande irgendeiner Innenstadt

1963 – 1986
Jahreszahlen,
in Stein gemeißelt,
getrennt
durch einen Binde-
strich von dreiundzwanzig
Jahren Dauer.

Die Zeit dazwischen:
Dein Leben

Ich sitze auf einer Bank am Rande irgendeiner Innenstadt und nippe am Leben. Nicht, dass es zu heiss wäre, wie frisch aufgegossener Tee, nein, es scheint mir nur zu kostbar, um es gierig zu verschlingen. Der Becher ist gut gefüllt, auch wenn Du einen kräftigen Schluck davon getrunken hast. Ich ging sparsam um mit der Leere, die Du hinterliessest, teilen musste ich sie mit niemandem.

Die Zeit stand ohnehin still, weisst Du. Jedes noch so sanfte Berühren dieser Stille liess die Fragen glühen und verwischte die Antworten, längst bevor sie jemand niederschreiben konnte. Lautlosigkeit füllte die Glasglocke. Verblasste Antwortbuchstaben stillten die Zeit.

Das Leben ist ein Salamander. Verliert es einen Körperteil, wächst ein Neuer nach. Das hast Du nicht gewusst, oder? Du dachtest, da würde nichts mehr wachsen und Öde war nie Dein Land gewesen. Niemand konnte so fabelhaft wie Du vom Hier in die Fremde entführen. Deine Welt war das tiefe Horn des Dampfschiffes, das in die See stach, die auch Du selbst warst. Du warst das ansteckendste Lachen im Gesicht, kleine Grübchen, in die man sich verbergen konnte. Da spielte noch Musik. Wie schade, dass Du sie nicht hören konntest im Knall des Aufpralls auf die Mauer.

Ich kann sie sehen, die Mauer, am anderen Ende der Innenstadt. Bilder verblassen nicht, weisst Du. Das ist das Schlimme: zusehen. Man wird älter davon. Ich habe mir geschworen, heute nicht zu gehen, auf dieser Bank sitzen zu bleiben und das Leben in mich hinein rieseln zu lassen, weil ich früher oft gegangen bin, allzu oft. Und wer weiss – möglicherweise vermag der Regen doch noch, die Bilder zu verwaschen.

Kursiver Text: Aus »Der Schnee gilt mir« von Hermann Burger

Suppe mit Spatz

In der kleinen, längst veralteten Gaststube, die gut zu einem Drittel aus dem Ausschankbuffet besteht, weht über den einsamen Tischen der Geist vergangener Stammtischrunden. Obwohl seit Jahren rauchfrei, sind die weiss-grauen Wolken ausgestoßener Zigarrenluft präsent und beißender Geruch schleicht sich in die Erinnerung der spärlich eintreffenden Gäste.
Nein, die langjährige Serviertochter schlängelt sich nicht mehr durch die eng aneinander stehenden Gasthausstühle, als tanze sie mit ihnen Tango. Der Wirt erzählt von besseren Tagen, die vor der Krankheit ihr Leben bestimmt und bereichert hatten.
Was geblieben ist – unerschütterlich all die Jahre – ist die Menukarte. Ein sicherer Wert auf eingeschweißtem Papier, Tradition, an der man hier festhält. Und so stellt der Wirt den Suppenteller mit den üblichen drei Tranchen Siedfleisch und die große Suppenschüssel zum Nachschöpfen auf den kleinen, ovalen Tisch. Mein Lieblingstisch, an der Nische zum Balkonfenster. »Ohne Markknochen und ohne Senf, wie früher, oder?« »Ja, wie immer, ich danke dir.«
Die alte Dame am Nebentisch durchforstet das Wochenblatt nach Nachrichten, die sie nicht schon in der Migros vernommen hat. Etwas Ungeheuerliches, mit dem sie als Minnesängerin durch die Gasthäuser der Stadt ziehen könnte, jene Stuben, die es besser mit ihr meinen als ihr eigenes, einsames Wohnzimmer zu Hause. »Bei Alma«, erzählt sie, »haben sie den Wintergarten eingeschlagen und den ganzen Schmuck mitgenommen!« »Man ist einfach nicht mehr sicher in der Stadt« hängt der Wirt ein. »Heute gibt es bei uns schon wieder keine einzige Zeitung, hat wohl einer geklaut vor der Türe.« »Na, die Zustelldienste sind auch nicht mehr, was sie mal waren.« Ein Ping-Pong-Gaststubengespräch zwischen Wirt, Gast eins und Gast zwei entwickelt sich und führt weiter vom Zeitungsklau zum FC Aarau (der ein notabene erstklassiges Potential völlig unbenutzt verkümmern lässt) zu den neu eingeführten Gebühren der Stadt, über das wieder eröffnete Rössli (keine Ahnung, wie der mit diesen Öffnungszeiten Geld verdienen will) zur Schwierigkeit, mit dem Rauchen aufzuhören und damit wieder zur viel zu spät erkannten Lungenentzündung der langjährigen Serviertochter. Ein bei allen sehr beliebtes Stadtoriginal ist sie, die sich nicht mehr auf den dünnen Beinen halten kann, auf denen sie all die Jahre Tischtango tanzte.
»So!« Er sprach dieses »So!« aus wie eines dieser lasst-uns-nicht-Trübsal-blasen-Sos. Fast schon glaubte ich, in diesem »So!« einen jetzt-wird-alles-besser-Grundton zu hören, ein Hoffnungsschimmer-So. Ich schließe mich der Aufbruchstimmung an, lobe das – wie immer – ausgezeichnete Pot-au-feu (was für ein gewagter neuer Ausdruck für Suppe mit Spatz!) und frage nach, ob es denn noch diese wundervollen Caramelchöpfli gäbe? »Ja, gerne.«
Ein ganz gewöhnliches, sich über die Jahre hinweg gerettetes »Ja gerne« legt sich über die Gedankenwolken der Gaststube und gesellt sich zu dem Seufzer, der das »So!« aus dem Fenster gefegt hatte.

1000 Tode schreiben

Wie oft hatte ich mir seinen Tod gewünscht. Nie hatten wir uns verstanden, was wir auch taten, die in uns gesetzten Erwartungen konnten wir nicht erfüllen. In hoffnungsloser Überforderung blieb uns nur die Wut über den jeweils anderen.

Ein ganzes und ein halbes Leben später ein Anruf: »Er ist im Krankenhaus. Kam nicht mal mehr die drei Tritte zur Haustüre hoch und fiel einfach vornüber hin.« »Wie schlimm ist es?« »Ich weiß auch nichts Genaues. Er liegt im Haus 6, falls du hingehen willst.«

Ich hatte noch einen Arbeitsnachmittag vor mir, die Klinik lag in der Nähe des Büros, die medizinischen Abklärungen dauerten erfahrungsgemäß Stunden – kein Grund zur Eile. Es war schon dunkel, als ich an jenem Novemberabend beim Empfang eintraf und nach seinem Zimmer fragte. »Sind Sie verwandt mit ihm?« Die Frage irritierte mich. »Ich bin die Tochter.« »Ach so. Nun, Ihr Vater liegt im Haus 1, Intensivstation, wussten Sie das nicht?«

Ich war die Einzige, die auf einem der Stühle vor der dicken Milchglastüre saß. Irgendwann öffnete sie sich. Der Pfleger führte mich in ein Zimmer, vollgestopft mit Monitoren und piependen Geräten, die den Raum mit blinkenden Lämpchen und Kurvendiagrammen aufhellten. Da lag er, dieser Baumstamm von einem Mann, in einem großen Bettgestell. Das Gesicht von einer Sauerstoffmaske zur Hälfte abgedeckt, die Bärentöterpranken kraftlos neben dem Körper. Zwölf Plastikbeutel, die Schläuche durch farbige Kupplungen verbunden, hingen an filigranen Metallständern und fanden ihren Weg in Vaters Armbeuge. »Unterzuckerung, Ohnmacht, Nierenversagen. Herzinfarkt, epileptischer Anfall, der totale Kollaps.« Die Erklärungen des Pflegers riefen mir die Äußerungen meines Vaters in Erinnerung: »Unsereins kann nur noch auf das Sterben warten.« Mir wurde klar, dass er sich diese Chance nicht entgehen lassen würde.

Zwölf Tage dauerte es, bis sein Leben rückwärts an ihm vorbei gezogen war. Endlose Wochen ohne Sinn nach der frühzeitigen Zwangspensionierung. Fünf Kinder durchgebracht mit der Frau, in die er sich unsterblich verliebt hatte. Harte körperliche Arbeit, einen Platz in der Gesellschaft erkämpft. Die Heimat ohne Perspektiven verlassen nach der Kindheit voller Entbehrungen im schrecklichen, braunen Krieg.

Inzwischen wurden die Schläuche abgehängt, Verlegung in ein Einzelzimmer. Würdige Rücksichtnahme, die ich in einem Krankenhaus dieser Größe nicht erwartet hätte. Seltene, kurze Augenblicke im halbwachen Dasein, stille Stunden am Sterbebett. Die letzten wachen Sekunden vor den Morphiumspritzen befand er sich wieder am Meer, die letzten Worte sprach er in seiner Muttersprache.

Als es so weit war spürte ich es und ging zu ihm. Der verbrauchte, aufgedunsene Körper, in dem sich der Atem bereits zurückgezogen hatte und es kaum bis zum Kehlkopf schaffte. Umso präsenter sein Wesen, entledigt von Wut und Sorge, von Schuld und Unausgesprochenem. Mit der Wut in ihm war auch meine weg gegangen; unnötig, darüber Worte zu verlieren. Wir beide wieder am gleichen Ort wie zu Beginn, am Ausgangspunkt, als es nur die Liebe gab, die uns verband. Vollkommen unerwartet durften wir diesen einen friedlichen Moment unseres Lebens noch ein zweites Mal teilen. Er hatte es geschafft, für ihn war es vorbei. Ich gönnte es ihm, und ein klein wenig neidisch war ich auch.

Ich spürte seinen Wunsch nach einem Gebet und sprach es für ihn aus, das Vater unser, ein letztes Mal. Die letzte Berührung, mit dem Handrücken über seinen Arm. Das letzte kurze Schnappen nach Atem, kaum wahrnehmbar, das letzte Aushauchen von Leben.

Der Text ist im E-Book „1000 Tode schreiben“ – ein Projekt des Frohmann Verlag, Berlin – mit der Nummer 88 erschienen und kann hier bestellt werden. Die Herausgeber- und Autorenanteile an den Erlösen werden dem Kindersterbehospiz Sonnenhof in Berlin-Pankow gespendet.

ISBN ePub: 978-3-944195-55-1 /ISBN mobi: 978-3-944195-56-8