1000 Tode schreiben

Wie oft hatte ich mir seinen Tod gewünscht. Nie hatten wir uns verstanden, was wir auch taten, die in uns gesetzten Erwartungen konnten wir nicht erfüllen. In hoffnungsloser Überforderung blieb uns nur die Wut über den jeweils anderen.

Ein ganzes und ein halbes Leben später ein Anruf: »Er ist im Krankenhaus. Kam nicht mal mehr die drei Tritte zur Haustüre hoch und fiel einfach vornüber hin.« »Wie schlimm ist es?« »Ich weiß auch nichts Genaues. Er liegt im Haus 6, falls du hingehen willst.«

Ich hatte noch einen Arbeitsnachmittag vor mir, die Klinik lag in der Nähe des Büros, die medizinischen Abklärungen dauerten erfahrungsgemäß Stunden – kein Grund zur Eile. Es war schon dunkel, als ich an jenem Novemberabend beim Empfang eintraf und nach seinem Zimmer fragte. »Sind Sie verwandt mit ihm?« Die Frage irritierte mich. »Ich bin die Tochter.« »Ach so. Nun, Ihr Vater liegt im Haus 1, Intensivstation, wussten Sie das nicht?«

Ich war die Einzige, die auf einem der Stühle vor der dicken Milchglastüre saß. Irgendwann öffnete sie sich. Der Pfleger führte mich in ein Zimmer, vollgestopft mit Monitoren und piependen Geräten, die den Raum mit blinkenden Lämpchen und Kurvendiagrammen aufhellten. Da lag er, dieser Baumstamm von einem Mann, in einem großen Bettgestell. Das Gesicht von einer Sauerstoffmaske zur Hälfte abgedeckt, die Bärentöterpranken kraftlos neben dem Körper. Zwölf Plastikbeutel, die Schläuche durch farbige Kupplungen verbunden, hingen an filigranen Metallständern und fanden ihren Weg in Vaters Armbeuge. »Unterzuckerung, Ohnmacht, Nierenversagen. Herzinfarkt, epileptischer Anfall, der totale Kollaps.« Die Erklärungen des Pflegers riefen mir die Äußerungen meines Vaters in Erinnerung: »Unsereins kann nur noch auf das Sterben warten.« Mir wurde klar, dass er sich diese Chance nicht entgehen lassen würde.

Zwölf Tage dauerte es, bis sein Leben rückwärts an ihm vorbei gezogen war. Endlose Wochen ohne Sinn nach der frühzeitigen Zwangspensionierung. Fünf Kinder durchgebracht mit der Frau, in die er sich unsterblich verliebt hatte. Harte körperliche Arbeit, einen Platz in der Gesellschaft erkämpft. Die Heimat ohne Perspektiven verlassen nach der Kindheit voller Entbehrungen im schrecklichen, braunen Krieg.

Inzwischen wurden die Schläuche abgehängt, Verlegung in ein Einzelzimmer. Würdige Rücksichtnahme, die ich in einem Krankenhaus dieser Größe nicht erwartet hätte. Seltene, kurze Augenblicke im halbwachen Dasein, stille Stunden am Sterbebett. Die letzten wachen Sekunden vor den Morphiumspritzen befand er sich wieder am Meer, die letzten Worte sprach er in seiner Muttersprache.

Als es so weit war spürte ich es und ging zu ihm. Der verbrauchte, aufgedunsene Körper, in dem sich der Atem bereits zurückgezogen hatte und es kaum bis zum Kehlkopf schaffte. Umso präsenter sein Wesen, entledigt von Wut und Sorge, von Schuld und Unausgesprochenem. Mit der Wut in ihm war auch meine weg gegangen; unnötig, darüber Worte zu verlieren. Wir beide wieder am gleichen Ort wie zu Beginn, am Ausgangspunkt, als es nur die Liebe gab, die uns verband. Vollkommen unerwartet durften wir diesen einen friedlichen Moment unseres Lebens noch ein zweites Mal teilen. Er hatte es geschafft, für ihn war es vorbei. Ich gönnte es ihm, und ein klein wenig neidisch war ich auch.

Ich spürte seinen Wunsch nach einem Gebet und sprach es für ihn aus, das Vater unser, ein letztes Mal. Die letzte Berührung, mit dem Handrücken über seinen Arm. Das letzte kurze Schnappen nach Atem, kaum wahrnehmbar, das letzte Aushauchen von Leben.

Der Text ist im E-Book „1000 Tode schreiben“ – ein Projekt des Frohmann Verlag, Berlin – mit der Nummer 88 erschienen und kann hier bestellt werden. Die Herausgeber- und Autorenanteile an den Erlösen werden dem Kindersterbehospiz Sonnenhof in Berlin-Pankow gespendet.

ISBN ePub: 978-3-944195-55-1 /ISBN mobi: 978-3-944195-56-8

Die Frau im Zug

Fahren Sie auch nach Bern?

Das Meeting in Genf war anstrengender gewesen als gedacht und er hatte noch einige Aufgaben zur Nachbearbeitung gefasst. Einen Teil davon wollte er im Zug gleich in Angriff nehmen, die Fahrt würde fast zwei Stunden dauern. «Gerade noch erwischt!», dachte Yves und war froh, dass er einen Fenstersitzplatz fand, an dem er seinen Laptop installieren konnte. Während sich der Zug schon in Bewegung setzte, legte der junge Rechtsanwalt seinen Trenchcoat und den Aktenkoffer auf die Ablagefläche oberhalb der Sitzplätze und machte es sich bequem. Er sass auf der rechten Seite des Zuges, was ihm den Blick auf den Lac Léman und seine herrliche Bergkulisse ermöglichen würde.

Yves war durstig und trank den Rest seines Mineralwassers aus der Petflasche. Dabei liess er seine Augen durch das Zugabteil schweifen. Vis-à-vis lag eine junge Frau in kurzen Hosen, braun gebrannt und offensichtlich sehr müde. Der Koffer unter ihrem Sitz verriet, dass sie wohl direkt aus den Ferien kam und schon im Flughafen zugestiegen war. Ihren hübschen Blondschopf hatte sie auf eine Jeansjacke gebettet, die zusammengeknüllt auf der Armlehne lag.

Im Abteil nebenan, auf der gleichen Seite wie Yves, streckte ein hochgewachsener Mittvierziger seine langen Beine unter den gegenüber liegenden Sitz, der nicht belegt war. Am Fenster, schräg gegenüber von Yves, entdeckte er einen bunt gepunkteten Regenmantel, der am dafür vorgesehenen Haken neben der Fensterscheibe hing. Die Besitzerin des farbenfrohen Stückes hatte ihn entweder dort vergessen oder sass vielleicht im Restaurantwaggon des Zuges.

Der bunte Regenmantel am Fenster erinnerte ihn an seine Kindheit, als er mit seiner Mutter aus der Romandie in die deutsche Schweiz umgezogen war. Damals hatte seine Mutter eine Stelle in Bern angenommen. Zum ersten Mal leitete eine Frau das Collegium generale der Universität Bern. Heute war er stolz auf seine Mutter, als Bub konnte er den Umzug aber nicht verstehen. Es war ihm sehr schwer gefallen, seine Grosseltern und die Schulfreunde zu verlassen. Bald würde der Zug durch diese malerische Gegend fahren, fast mitten durch die Rebberge, in denen er damals viel Zeit mit seinem Grand-Père verbrachte. Nach dem Umzug war dies nur noch in den Schulferien möglich gewesen, weshalb ihm diese Wochen als schönste Zeit des Jahres in Erinnerung geblieben waren.

In Gedanken versunken, blickte Yves aus dem Zugfenster über den glitzernden See. Er erinnerte sich sehr genau daran, wie unglücklich er damals war und welche Angst er hatte, keine neuen Freunde zu finden. Wer würde ihm schon seinen Blutsbruder Jacques ersetzen können? Ob seine neue Lehrerin auch so lustig sein würde, wie Madame Dumas, oder ob er einen strengen Lehrer bekommen würde?

Als sie damals mit dem Zug nach Bern gefahren waren, um die neue Wohnung zu besichtigen, hatte er seiner Mutter sein Herz ausgeschüttet. «Aber natürlich wirst du neue Freunde finden, hier gibt es genau so viele tolle Jungs wie in Lutry. Mach dir keine Sorgen», hatte sie gesagt. Sie hatte ihm übers Haar gestrichen und liebevoll die Stirn geküsst. Und dann hatte er den bunt getupften Regenmantel gesehen, schräg gegenüber am Haken neben dem Fenster. Die Frau, die neben dem Mantel sass, hatte einen Stapel Hefte auf ihrem Schoss und malte mit einem Farbstift kleine Zeichen auf die beschriebenen Seiten. Sie schmunzelte vor sich hin und sah sehr nett aus. Wie seine Mutter trug sie ihre dunklen Haare schulterlang. «Maman, maman», hatte er mit leiser Stimme gerufen, und dann geflüstert: «So wünsche ich mir meine neue Lehrerin!» «Mein lieber Yves, bestimmt wirst du deine neue Lehrerin oder deinen neuen Lehrer mögen», hatte Maman leise erwidert.

Nach dem Umzug in den Sommerferien hatte er schon Nico kennengelernt, ein quirliger Kerl mit Sommersprossen im Gesicht. Sie hatten zusammen mit Tim, der Jahre später mit ihm zusammen studieren würde, Fussball gespielt. Er wusste, dass er die beiden Jungs an seiner neuen Schule wiedertreffen würde. Aber was, wenn die anderen Kinder ihn nicht mochten?

In der Nacht vor dem ersten Schultag hatte Yves kaum geschlafen. Er war nervös und blickte am frühen Morgen aus dem Fenster. Der Himmel war mit dicken, dunkelgrauen Wolken überzogen. «Du bist so still», meinte seine Mutter beim Frühstück und munterte ihn auf: «Yves, du bist ein grossartiger Junge, deine Klassenkameraden werden dich mögen, du wirst sehen. Komm, zieh deine Regenjacke an und gib mir die Hand, wir gehen zusammen zum Schulhaus », forderte sie ihren Sohn auf. «Maman! Ich bin doch schon gross! Was denken denn die anderen, wenn ich noch an deiner Hand gehe?» Und so gingen sie nebeneinander her zur Schule und Yves fühlte sich schon fast ein bisschen erwachsen.

«Sandwich, Kaffee, Getränke!», die Ankündigung der Minibar riss Yves aus seinen Gedanken. Erstaunt sah er, dass sie schon an Lausanne vorbeigefahren waren. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass der Zug angehalten hatte und der Mann im Abteil neben ihm offenbar dort ausgestiegen war. Die Frau ihm gegenüber schlief immer noch tief und fest. Er kaufte sich eine Cola und erhaschte noch die letzten Blicke auf die Lavaux, die Rebberge und den See, bevor der Zug in Richtung Fribourg abbog.

Auf dem Weg zum Schulhaus hatte der Regen eingesetzt und seine Mutter achtete darauf, dass Yves nicht in die nächstbeste Pfütze sprang. Kaum hatten sie den Schulhauseingang erreicht, kam ein Mann auf die beiden zu. «Frau Aeby, herzlich willkommen! Und du bist also Yves.» Yves gab dem Rektor artig die Hand und schaute sich dann neugierig im Schulhaus um. «Ah, und da kommt auch schon Frau Schütz, deine neue Lehrerin!», rief der Rektor. Yves drehte sich um, blickte über den Pausenplatz und sah eine Frau auf sie zukommen. Sie hatte dunkle, schulterlange Haare, trug einen bunt getupften Regenmantel und lächelte fröhlich. Und da wusste er: alles würde gut werden.

Yves musste schmunzeln, er dachte gern an diese Zeit zurück, auch wenn es für ihn nicht immer einfach war. Erstaunlich, was für Geschichten dieser bunte Regenmantel, der dort drüben am Haken hing, in ihm hervorrief. Inzwischen fuhr der Zug entlang des Plateaus, welchem das Gruyère mit seiner hügeligen Landschaft zu Füssen lag. Yves mochte diese Strecke und genoss die Aussicht auf das Spiel von Licht und Schatten über den abgemähten Wiesen. Der Laptop stand noch unberührt auf dem ausgeklappten Tablar. Seine anfängliche Motivation, sich auf der Rückfahrt sogleich in die Arbeit zu stürzen, war verschwunden. Viel lieber hing er seinen Gedanken nach.

«Danke fürs Aufpassen, ist ja alles noch da!» Yves drehte den Kopf in Richtung der Stimme, die ihn aus seinen Gedanken holte. Die attraktive Frau mit den dunklen, adrett gezähmten Locken lächelte keck, als sie sich an den Sitzplatz zu ihrem bunt getupften Regenmantel begab. Yves schaute sich verwundert um und als er niemanden sah, verstand er, dass sie ihn gemeint hatte. «Oh, das habe ich gerne gemacht, mein Honorar dafür wird sie allerdings schockieren», entgegnete er ihr mit einem Augenzwinkern. «Nun, wir werden sehen,» konterte sie mit angedeutetem Stolz und einer hochgezogenen Augenbraue, «ob es da noch Verhandlungsspielraum gibt. Fahren Sie auch nach Bern?»

Yves blickte in ihre zauberhaften, dunkelbraunen Augen und antwortete: «Ja, ich fahre auch nach Bern, jetzt erst recht.»

Der Text wurde im Rahmen des Schreibwettbewerbes „Die Frau im Zug“ im Vidal Verlag ausgewählt und publiziert. Das Buch ist vergriffen, kann allerdings als E-Book hier bestellt werden.