500 Jahre auf 200 Metern

Wer im Lissabonner Stadtteil Belém entlang der Hafenpromenade spaziert, trifft Aufbruchstimmung an. Man ehrt hier die berühmten portugiesischen Entdecker, allen voran Heinrich der Seefahrer, zu dessen 500. Todestag im Jahre 1960 das »Denkmal der Entdeckungen« eröffnet wurde. Im 15. und 16. Jahrhundert haben die von ihm initiierten Entdeckungsreisen das Land groß gemacht und stellten den Beginn der europäischen Expansion dar. Portugal wurde zum Mittelpunkt des europäischen Handels von Gewürzen und sonstigen Reichtümern aus den neuen Welten.

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Am Fuße des Denkmals liegt ein großflächiges Windrosen-Mosaik, in dessen Zentrum eine Weltkarte die portugiesischen Entdeckungen aufzeigt. Das Mosaik, ein Geschenk Südafrikas an Portugal, weckt Reiselust. Man kann sich lebhaft ausmalen, wie die mutigen Seefahrer hier den Hafen ihrer Heimat verliessen, um nach unbekannten Territorien und Schätzen zu suchen. So passierte Bartolomeu Diaz auf einer streng geheimen Entdeckungsfahrt unter portugiesischer Flagge 1488 als erster Europäer das Kap der guten Hoffnung. Im Jahre 1500 betrat Pedro Alvares Cabral in der Nähe des heutigen Porto Seguro zum ersten Mal brasilianischen Boden und gilt seither gemeinhin als Entdecker der späteren Kolonie Portugals.

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Begrüßt wurden die nach Hause kehrenden Seefahrer der damals weltgrößten Seemacht an der Hafeneinfahrt Lissabons durch den »Torre de Bélem«. 1521 ließ König Manuel I. den 35 Meter hohen Leuchtturm erbauen, den man heute über einen Steg bequem zu Fuß erreichen und besichtigen kann.

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Unmittelbar neben dem »Torre de Bélem« befindet sich ein weiteres Monument. Von einer beeindruckenden Steinmauer umrahmt steht ein Dreieck, einer Pyramide ähnlich, in einem Wasserbecken. In der Mitte des imposanten Mahnmals brennt ein Feuer. Links und rechts der Skulptur ist je ein Wächterhäuschen auszumachen. Im Schatten der Steinmauer sitzt ein alter Mann auf der mittleren Stufe eines Dreitritts und meißelt Zeichen in die Steinplatten. Rasch wird mir klar, dass es sich bei den Zeilen um Namen handeln muss. Namen, deren Träger nicht vom »Torre de Belém« begrüsst wurden, weil sie von ihrer Reise nicht zurückgekehrt sind. Mit voller Wucht nimmt mich die buchstäbliche Todesstille dieses Ortes ein.

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Ich kann nicht anders. Ich muss diesen Ort betreten. Ich muss die Namen lesen, die der alte Mann in die Steinplatten meißelt. Ich muss die Kerben der einzelnen Buchstaben mit meinen Fingern berühren. Ich spüre mich durch das A von Antonio Pereira Ramos, Soldat. Wie eine Blinde ertaste ich die Furchen, die der Name Manuel Serafim Lavado im Stein hinterlässt. Aus den Ritzen fallen Bilder von Müttern, die ihre Söhne unter Tränen in den Krieg ziehen lassen. Bilder von Soldaten, die ihre Frauen zum Abschied küssen und etwas von Kampf für das Vaterland in ihre Ohren flüstern. Wüste Szenen von verschwitzten Männern in ihren Uniformen, wie sie töten, wie sie sterben. Die Bilder fließen aus den in die Steinplatten gehauenen Namen wie ein Wasserfall und ertrinken schließlich im Wasser, in dem das Mahnmal steht.

An einzelnen Namen klebt eine Rose und ich stelle mir vor, wie die Witwen und Geschwister dieser gefallenen Soldaten die Blumen 50 Jahre nach dem Krieg hierher gebracht haben. Vielleicht waren es auch die Kinder und Enkel – wie viele davon wohl ihren Vater niemals gesehen haben?

Während 1960 das Salazar-Regime mit dem beeindruckenden »Denkmal der Entdeckungen« die großen Namen wie Heinrich der Seefahrer, Vasco da Gama und Ferdinand Magellan ehrte, schürte hunderte Seemeilen entfernt die Unabhängigkeit Belgisch-Kongos einen Aufstand in der portugiesischen Kolonie Angola. Nur ein Jahr darauf entwickelte sich der vorerst friedliche Protest in ein Massaker, das Portugal schließlich militärisch niederschlug. Es folgten weitere Krisen in Guinea und Mosambik. Die Kolonialkriege in den afrikanischen Gebieten Portugals kosteten rund 10’000 portugiesischen Soldaten das Leben.

Mit dem Mahnmal und militärischen Ehren gedenkt man hier seit dem Jahr 2000 den gefallenen portugiesischen Überseekämpfern. Exakt jede Stunde erfolgt die Wachablösung der beiden bewaffneten Soldaten in den Wächterhäuschen. Ziehen die Wachsoldaten an der Landesflagge vorbei, wird diese militärisch gegrüßt. Vielen Familien ist das Kriegerdenkmal bestimmt ein Trost, ein Ort, der ihren in der Fremde verlorenen Lieben eine Erinnerung setzt, vielleicht sogar versucht, ihrem Tod eine Art Sinn zu geben.

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Der Ort mag für viele Menschen unterschiedliche Bedeutungen haben, ich kann jedoch nur an eines denken: Nichts wird diese Namen jemals wieder zu Leben erwecken. Unwiederbringlich haben die Lebens- und Liebesgeschichten dieser Menschen in der Ferne ein jähes Ende gefunden. Und bei allem Respekt fällt mir auf, dass hier ausschließlich den landeseigenen Soldaten gedenkt wird.

Ich weiss nicht, ob die drei Monumente mit Absicht in dieser Reihenfolge auf so kleinem Raum erbaut wurden, vielleicht ist es Zufall. Noch nie jedoch habe ich auf geschätzten 200 Metern Promenade eine so geballte Ladung Geschichte erlebt, die sich immerhin über mehr als 500 Jahre erstreckt.

Ausgelost

Auf Dich
hätte ich gewartet

Wir haben es
ausgelost – Du hast
den Kürzeren gezogen

Mir blieb
das große Los –
als Gewinn eine Zeit
die Wunden nicht heilt

Frühmorgens
wenn alles neu beginnt
wiegt es am schwersten
ohne Dich

Immer wieder von neuem
Tritt zu fassen
bis die Leere sich füllt

Auf Dich
hätte ich gewartet
nicht jedoch
auf das Leben

Ein Semesterende in 5 Teilen

1. Lehrerwahl
Ausgerechnet Pitzi Blödmann! Das hatte ihr gerade noch gefehlt, dass sie die Projektarbeit vor den Sommerferien mit diesem großkotzigen, ignoranten Kerl zusammen erarbeiten soll. Es war doch von vornherein klar, dass die ganze Arbeit ihr anhaften würde. Der blond gelockte Strahlemann hatte bestimmt nicht vor, seine wertvolle Zeit damit zu vergeuden, einen Tag lang draußen die Vögel am Bach zu beobachten. Geschweige denn, anschließend eine Klausurarbeit inklusive Text und Zeichnungen über das Gesehene zu gestalten. Und schon hielt ein besonders lustiger Klassenclown ein eiligst gekritzeltes Blatt Papier hoch: »Vögel(n) am Bach«. Ha ha ha. „Mit DER doch nicht“ bezeugte sein spöttischer Blick in die Schulklasse des Gymnasiums, als der Lehrer die Zuweisung der Themen auf die von ihm festgelegten »Paare« bekannt gab.

Anna hatte nicht vor, dieses Spiel mitzumachen, zudem konnte sie auf die Kränkungen gut verzichten. Also schnappte sie ihr Notizbuch, das Zeichenheft und die Stifte, schlüpfte in ihre Jeansjacke und machte sich auf zum nahe gelegenen Bach. Ihre Lieblingsstelle lag ganz in der Nähe der alten Holzbrücke, da, wo der Wasserlauf verzweigte, um etwa hundert Meter weiter vorne wieder zusammenzufließen. An diesem Abschnitt war die Böschung nicht so steil und man konnte es sich recht bequem machen. Wenn der Bach nur wenig Wasser führte, gelang es mit einem beherzten Sprung sogar, die kleine Insel, die an jener Stelle entstanden war, zu erreichen. Bestimmt würden da einige Vögel auftauchen, über deren Verhalten sie ein paar Seiten schreiben konnte. Das mit dem Zeichnen machte ihr weit mehr Sorgen, ihre ungelenken Zeichenstriche ließen den Betrachter selten erkennen, was sie da mit Farbstiften zu Papier hatte bringen wollen. Sie legte sich ins Gras und fing an, sich Gedanken über die blöde Projektarbeit zu machen. „Vögel am Bach“, das würde kein Knüller werden. Während sie ihren Gedanken nachhing, war es still geworden um sie herum.

2. Vögel am Bach
„Na, Anna, kommst du gut voran?“ Blondlocke Pitzi war aufgetaucht und setzte sich neben sie. „Was tust DU denn hier?“ Sie war überrascht, dass er sie gefunden hatte, oder eher erstaunt, dass er sich überhaupt auf den Weg gemacht hatte, sie zu suchen. „Na, ist doch schön hier, da wird man sich den Tag schon vertreiben können.“ „Ja klar, und wer schreibt die Arbeit?“ „Renk dich ein, wir haben genug Zeit, lass uns das gemütlich angehen.“ Sie verkniff sich eine trotzige Antwort und fing an, nach dem ersten Vogel Ausschau zu halten.

„Hast du Zigaretten?“ Seine Frage erstaunte sie wenig, er war ein Schnorrer. „Ja, klar. Du nicht?“ „Jetzt sei doch nicht so, kriegst sie zurück.“ Was soll’s, dachte sie, auf die eine Zigarette kam es auch nicht an. So pafften sie schweigend vor sich hin, sichtlich bemüht, die Lungenzüge cool aussehen zu lassen und die aufkeimenden Hustenreize tunlichst zu unterdrücken.

„Na ihr zwei, Schule schwänzen, hä?“ Der Alte war mit seinem Hund unterwegs und erschreckte die beiden gehörig. Geschickt ließ Anna ihre halb gerauchte Zigarette verschwinden. Pitzi fing sich sofort und machte weiter einen auf lässig. „Nö, Vögel beobachten, Projektarbeit heißt das heute!“ Ein selbstbewusster Pitzi wusste sich eben stets zu helfen. Der Alte lachte vor sich hin und blickte über die Wiese zu seinem unweit gelegenen Hof. Er sah etwas verschroben aus in seiner zu kurzen Hose, in welcher ein helles Unterhemd steckte, und die von einem ausgeleierten Hosenträger gehalten wurde. „Vögel, von wegen. Heute gibt es hier doch nur noch Piepmätze! Früher, als der Bach nicht reguliert war, trat er regelmäßig über die Ufer und schwemmte die Felder bis zu meinem Hof. Überall Wasser. Da gab es jede Menge Störche und Fischreiher zu sehen! Die hatten ein Festmahl, so viele Frösche wie zu holen waren.“ „Echt?“ Jetzt war Pitzi offenbar interessiert. „Dann war der Radweg ja gar nicht mehr befahrbar, oder?“ „Radweg! Junge, damals gab es keinen Radweg, der wurde erst mit dem Damm gebaut. Ja ja, das sah hier alles ganz anders aus.“

Anna hatte den alten Mann mit seinem Hund schon oft hier gesehen, jedoch noch nie mit ihm gesprochen. Er war ihr immer etwas verstockt vorgekommen mit dem schlurfenden, gebückten Gang und einem kalten Stumpenrest im Mund. Jetzt fand sie ihn eigentlich recht sympathisch und das brachte sie auf eine Idee. „Würden Sie uns mehr erzählen aus dieser Zeit? Für die Projektarbeit?“ Pitzi staunte und schaute sie fragend an. „Na,“ flüsterte sie ihm zu „hat ja niemand gesagt, wir müssen eine Gegenwartsgeschichte schreiben, oder?“

„Wenn ihr meint, von mir aus. Heute ist Freitag, da bäckt meine Frau immer einen Kuchen. Kommt doch mit, dann trinken wir dazu einen Tee und ich zeige euch die alten Fotos.“ Anna sagte begeistert zu und Pitzi war ganz still geworden.

3. Anderswelt
Pitzi fühlte sich in der vorsintflutlichen Küche sichtlich unwohl. Er war den Rauch vom Holzofen nicht gewohnt und die vom Ruß geschwärzten Wände fand er gruselig. Aus dem Stall drang Viehgeruch ins Wohnhaus und in der Küche schwirrten Fliegen umher. Die Bäuerin hatte tatsächlich einen Kuchen gebacken und kochte nun Teewasser, während der alte Bauer in der Wohnstube das Holzbuffet nach den Fotos durchsuchte. „Ich heiße Anna, und das ist Pitzi, äähh Peter. Wir schreiben eine Klausurarbeit über die Vögel am Bach. Es ist wirklich sehr nett von Ihnen, dass Sie uns dabei helfen.“

Inzwischen hatte Pitzi sein Zeichenbuch gezückt und mit ein paar wenigen Bleistiftstrichen den Holzofen mit der dampfenden Pfanne darauf skizziert. Anna schielte über seine Schultern und stupste ihn frech an. „Hey, du kannst ja richtig gut zeichnen, hätte ich dir gar nicht zugetraut!“ „Na, wenn ich an dein Gekritzel im Zeichenunterricht denke, mache ich die Zeichnungen für unsere Arbeit wohl lieber selber.“ „OK,“ sah sie ein, „1:0 für dich.“

Der Bauer setzte sich zu ihnen an den Küchentisch und sortierte ein paar Fotos aus. »Hier, das muss etwa dreißig Jahre her sein. Diese Bilder hat der Zeitungsfotograf damals gemacht und sie uns anschliessend geschenkt.« Die Schwarz-Weiss-Fotos steckten in einer Kartontüte und waren bereits leicht vergilbt. »Das Wasser hat die kleinen Fische bis auf das Feld geschwemmt. Die Graureiher konnten die zappelnden Tierchen im Spaziergang schnappen. Und hier, gleich fünf Störche haben sich den Bauch neben unserem Stall vollgeschlagen.« Als die Bäuerin eines der Fotos in die Hand nahm, blieben ihre trüben Augen daran hängen und ein Lächeln erhellte kurz ihr Gesicht. Sie streifte die Fingerkuppen sanft über das Bild und sagte »Schau, Kind, da stehst du vor dem Haus, mit dem Bäri.« Anna und Peter schauten erst die alte Frau und dann einander verwundert an. Der Bauer zog sein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und und als er sich damit die müden Augen rieb, war es still geworden in der Küche.

4. Zur Sache
Einen halben Apfelkuchen später hatten sie genug Material für die Arbeit zusammen und der Bauer gab ihnen sogar ein paar der Fotos mit. Sie verabschiedeten sich dankend beim alten Ehepaar und gingen zurück zum Bach. „Siehst Du, alles easy. Ich sag doch, man muss so was langsam angehen.“ „Ja ja, alles easy. Vor allem der coole Obermacker aufm Bauernhof. Wie erklärst du das bloß deiner Mutti, dass du nach Kuhstall riechst?“ Kaum hatte sie es ausgesprochen, tat es ihr ein wenig leid, dass sie ihn wieder pikste. Er schien es gelassen zu nehmen, pflückte ein Gänseblümchen und legte sich in die Wiese. „Sie liebt mich, sie liebt mich nicht. Sie liebt mich, sie liebt mich nicht. Sie liebt mich.“ „Was soll das denn, machst du hier jetzt einen auf romantisch oder was?“ »Du bist zickiger, als ich dachte.« Das saß.

»Ist sowieso spät geworden, ich mach mich auf den Heimweg.« »Spät ist um die Zeit nur für Streberinnen. Wir können das nächste Woche zu Papier bringen.« »Ach, und was hast du vor? Gänseblümchen pflücken?« »Lass uns eine rauchen.«

»Hast du es schon mal getan?« »Was?« »Na, was schon!« »Wieso sollte ich das ausgerechnet dem Obermacho meiner Klasse erzählen?« »Du bist also nicht nur zickig, sondern auch verklemmt.« »Dann zeig mir, wie’s geht, und erzähl erstmal von dir. Wie war’s denn so mit Nikita, hm?« Er nahm einen Zug der Zigarette, drückte den Stummel zwischen Daumen und Mittelfinger zusammen und spickte ihn in den Bach. Nachdem er den Rauch geräuschvoll durch die rund geformten Lippen gepresst hatte, verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und legte sich ins Gras, den Blick in den blauen Himmel gerichtet. Er wandte seinen Kopf auf ihre Seite und sah sie unvermittelt an. »Gar nicht.« »Wie bitte?? DAS Gesprächsthema an der Schule seit über einer Woche – und es war nichts? Du willst mich doch veräppeln!«

Blondlocke blinzelte in den Sommerhimmel und zuckte mit der Schulter: »Die Leute reden gerne, das weißt du genau.« »Jetzt hör aber auf, weder du noch Niki haben das abgestritten, und jetzt willst du behaupten, es war eine Zeitungsente. Im übrigen geht es mir am Arsch vorbei, mit wem du ins Bett steigst, das ist deine Sache. Ich will nur nicht zum Tagesgespräch werden, wenn du morgen irgendeinen Mist rausposaunst. That’s all.«

»Niki und ich waren grad so richtig in Fahrt gekommen mit rumknutschen. Just in dem Moment, als ich an ihrem Reißverschluss rummachte, kam mein kleiner Bruder ins Zimmer.« »Kleinen Brüdern kann man Geld für ein Eis geben, dann verziehen sie sich wieder, oder?« »Er war aufgeregt, weil er im Garten eine Blindschleiche gefunden hatte. Die brachte er mit nach oben, um sie mir zu zeigen. Niki kreischte angewidert und machte sich aus dem Staub. Was weiß ich, was sie mit ihren auf Neuigkeiten wartenden Freundinnen tratschte. Mich hat keiner gefragt.«

»Tut mir echt leid, wenn ich dich auslache, aber du musst zugeben, die Geschichte ist amüsant.« »Es spielt so oder so keine Rolle, nach diesem Semester bin ich wieder weg.« »Wieso das denn, lässt Du das letzte Schuljahr etwa aus?« »Nein, ich absolviere es nur nicht hier. Meinen Eltern gefällt es wohl doch nicht auf dem Land, wir ziehen um nach Basel.« »Cool! Da wär ich sofort dabei, freust du dich etwa nicht?« »So cool ist es nicht, alle zwei Jahre umzuziehen, glaub mir.«

Peter wandte sich ihr zu und stützte sich lässig auf den Ellbogen. Er setzte sein verschmitztes Grinsen auf, zwischen den Zähnen einen Grashalm, und sah verdammt gut aus. »Heute wär ein Wetter, um Dichter zu zeugen, vielleicht möchtest du ja die Gelegenheit ergreifen?.« »Hau bloß ab!« Und grade, als sie dies sagte, war es still geworden am Bach.

5. Semesterende
»Es geschehen noch Zeichen und Wunder!« Der Biologielehrer eröffnete die Stunde – es war die letzte der Projektwoche und läutete somit die Sommerferien und den Semesterwechsel ein. Anna hatte nie verstanden, wen er mit seinen doofen Sprüchen beeindrucken wollte, bei ihr klappte es auf jeden Fall nicht. Heute würden sie die Klausurarbeiten zurück bekommen und die Noten dazu erfahren. In Biologie bedeutete das stets ein Spießrutenlauf, der Lehrer genoss es sichtlich, die jeweils besten Arbeiten gegen die miserabelsten auszuspielen. Anna war in Bio Mittelmaß und ganz glücklich darüber. So musste sie ihre Arbeiten nie vor der Klasse präsentieren und wurde dafür auch nicht klein gemacht.

»Einige von euch haben mich überrascht – ich hätte nicht gedacht, dass ihr euch so dreinhängt in die Arbeiten. Nun, es gibt auch jene, bei denen ich überhaupt nicht überrascht bin, aber das wird euch nicht überraschen.« Die Klasse nahm die für den Lehrer typischen Bemerkungen mit Seufzern und theatralischen Augenrollern zur Kenntnis. Angespannt waren nur jene Schüler, deren Versetzung ins nächste Semester von dieser Note abhängig sein würde. Wie Peter zum Beispiel.

Die Inszenierung begann. »Martin und Evelyn zum Thema Im Bienenstock. Keine Überraschung.« Durchgefallen. »Petra und Marion – Feldblumen. Immerhin, der gute Wille ist zu erkennen.« Könnte eine genügende Note bedeuten. Und so ging es weiter, der Lehrer verteilte die Arbeiten mit entsprechenden Kommentaren an die Schüler, angefangen bei der schlechtesten Note. Und gerade, als Anna und Peter sich fragend anschauten und dachten, der Lehrer hätte ihre Arbeit vergessen, da trat der Biolehrer vor Peters Pult.

»Peter und Anna zum Thema Vögel am Bach.« Bühnenreife Pause. Kindisches Kichern in der Klasse. Austausch vielsagender Blicke. »Grandios! Seriöse Recherche. Dokumentarisch hinterlegt. Großartige Zeichnungen. Fabelhafter Text. Eine glatte Sex!« Anna wich das Blut aus dem Gesicht. Sie sah buchstäblich alles den Bach runter gehen, genau so, wie sie es erwartet hatte. Anna wagte einen Blick in die Runde, die sich auf den Spott vorbereitete. Tuscheln. Als sie ihren Blick Peter zuwendet, schmunzelt der Macho zufrieden vor sich hin. Als er verheißungsvoll mit der rechten Augenbraue zuckte, war es still geworden im Klassenzimmer. 

 

Am Rande irgendeiner Innenstadt

1963 – 1986
Jahreszahlen,
in Stein gemeißelt,
getrennt
durch einen Binde-
strich von dreiundzwanzig
Jahren Dauer.

Die Zeit dazwischen:
Dein Leben

Ich sitze auf einer Bank am Rande irgendeiner Innenstadt und nippe am Leben. Nicht, dass es zu heiss wäre, wie frisch aufgegossener Tee, nein, es scheint mir nur zu kostbar, um es gierig zu verschlingen. Der Becher ist gut gefüllt, auch wenn Du einen kräftigen Schluck davon getrunken hast. Ich ging sparsam um mit der Leere, die Du hinterliessest, teilen musste ich sie mit niemandem.

Die Zeit stand ohnehin still, weisst Du. Jedes noch so sanfte Berühren dieser Stille liess die Fragen glühen und verwischte die Antworten, längst bevor sie jemand niederschreiben konnte. Lautlosigkeit füllte die Glasglocke. Verblasste Antwortbuchstaben stillten die Zeit.

Das Leben ist ein Salamander. Verliert es einen Körperteil, wächst ein Neuer nach. Das hast Du nicht gewusst, oder? Du dachtest, da würde nichts mehr wachsen und Öde war nie Dein Land gewesen. Niemand konnte so fabelhaft wie Du vom Hier in die Fremde entführen. Deine Welt war das tiefe Horn des Dampfschiffes, das in die See stach, die auch Du selbst warst. Du warst das ansteckendste Lachen im Gesicht, kleine Grübchen, in die man sich verbergen konnte. Da spielte noch Musik. Wie schade, dass Du sie nicht hören konntest im Knall des Aufpralls auf die Mauer.

Ich kann sie sehen, die Mauer, am anderen Ende der Innenstadt. Bilder verblassen nicht, weisst Du. Das ist das Schlimme: zusehen. Man wird älter davon. Ich habe mir geschworen, heute nicht zu gehen, auf dieser Bank sitzen zu bleiben und das Leben in mich hinein rieseln zu lassen, weil ich früher oft gegangen bin, allzu oft. Und wer weiss – möglicherweise vermag der Regen doch noch, die Bilder zu verwaschen.

Kursiver Text: Aus »Der Schnee gilt mir« von Hermann Burger

Abschied auf Raten

Es begann vor etwa 4 Jahren. Seine Frau erzählte mir besorgt und mit erstickter Stimme, der Arzt habe Verdacht auf Alzheimer geäussert. Die anfänglichen kleinen Vergesslichkeiten seien einfach immer auffälliger geworden. Aus der unauffälligen Frage beim Mittagessen „Du, welches ist schon wieder der schnellste Weg nach Rupperswil?“ wurde ein „Trinke ich den Kaffee immer mit Zucker?“.

Ich denke erst an einen schlechten Scherz. Diesen Mann kenne ich als echten Kerl. Morgens früh raus, rauf auf die ganz grossen Maschinen. Verantwortung tragen als Unternehmer, die Jungen fordern und fördern. Umsichtige Entwicklung und Planung der Zukunftsinvestitionen. Feuerwehrdienst mit Herzblut. Familie, Frau und Kinder beschützen. Der ist vielleicht ein bisschen überarbeitet, aber DEM könnte so etwas wie Alzheimer NIE passieren. Der erholt sich wieder, schliesslich ist er erst 62 Jahre jung.

Der Verdacht erhärtet sich. Er wird zur Gewissheit. Ich bewundere, wie die Familie sich mit ihrem Schicksal auseinander setzt. Was ist Alzheimer? Was kann ich tun? Nichts. Nichts kann man tun, zumindest nichts, was der Krankheit entgegen wirken würde. Sie nimmt ihren Lauf und zeigt ihr Gesicht: Tränen der Verzweiflung für diejenigen, die ihren Ehemann, Vater, Freund bei lebendigem Leib verlieren. Misslungene Versuche, den Patron im Firmengeschehen dabei zu halten. Die Sicherheit geht vor, der Kranke greift in eine Transportschnecke und kann nicht erklären, weshalb. Glück gehabt, gerade noch.

Noch kann ich mit ihm reden, er weiss, was mit ihm geschieht. Regelt, was noch geregelt werden kann. Die immer gute Laune wird rarer. Die unzähligen Erlebnisse, die er zu jeder Gelegenheit so lebensfroh erzählen konnte, verstummen. Er zieht sich zurück. Das nächste Mal, als ich ihn sehe, ist ihm schon nicht mehr wohl, wenn ich ihn anspreche. Er braucht lange, um zu verstehen, wen ich mit seinen Enkelkindern meine. „Doch, ja, natürlich, ich habe heute morgen mit ihnen Schnee geräumt!“ Bald sind seine Enkel das einzige, auf das er überhaupt noch reagiert. Ihm ist am wohlsten, wenn er nicht angesprochen wird.

Heute gehe ich wieder auf ihn zu. Schön zu sehen, dass er noch täglich in Vollausstattung im Geschäft auftaucht. Latzhose, Sicherheitsschuhe, Leuchtjacke. Ich strecke ihm meine Hand entgegen und begrüsse ihn wie immer, wie ich es seit 13 Jahren tue, wenn ich ihm begegne. „Sali Höisu, wie hesch?“ Er sieht mich an und sieht mich nicht. Dann ein Lächeln, ein Händedruck. „Hoi, besch ou do.“ Er begrüsst mich. So, wie er es noch nie getan hat in den 13 Jahren. Die Hand entzieht er mir, den Blick auch. Weg ist er, weg im Hier.

Auf diesen Beitrag hat mir die wunderbare Zora Debrunner auf ihrem Blog „Demenz für Anfänger“ geantwortet:

http://demenzfueranfaenger.wordpress.com/2014/03/03/das-erste-mal/

Herzlichen Dank, liebe Zora, Deine Beiträge über Deine Oma Paula sind sehr berührend. Die Nomination des Blog zum Grimme Online Award
2014 ist wohlverdient!