Karriere, Frau?

Das Stellenangebot kam zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Ich hatte soeben die höhere Fachausbildung zur dipl. Buchhalterin bestanden und meinen Job gekündigt, um drei Monate mit dem Motorrad gen Westen zu touren. Meine Güte, heute, mit 47 Jahren, kommt mir sofort der Gedanke: Wie jetzt, den Job gekündigt, ohne einen neuen zu haben?! Doch damals, mit 26, gut ausgebildet und in einem Land lebend, in dem das Wort Arbeitslosigkeit nur noch ein Schreckgespenst für Nachkriegsgenerationen war, konnte ich das getrost wagen.

Nun, ganz so war es auch nicht. Da ich zu jener Zeit als Single lebte, hatte ich meine Bewerbungsunterlagen einem in der Branche bekannten Stellenvermittler zukommen lassen. Die Abmachung war, dass er während dieser drei Monate eine geeignete Stelle für mich sucht, damit ich in nützlicher Frist nach der Rückkehr wieder arbeiten konnte. Ich war voll motiviert und hatte einen gut gepackten Rucksack an Wissen und Erfahrung für einen neuen, anspruchsvolleren Job.

Erstens kommt es anders, und zweitens geht es schnell. Noch bevor ich am Packen der Reisetasche war, kam der Anruf: »Ich habe einen exzellenten Job für Sie! Genau das, was Sie wollen: Finanzbuchhaltung in einem Produktionsbetrieb, Monatsabschlüsse, Konzernreporting, Mehrwertsteuer, Liquiditätsplanung, Budget etc. Spannender geht’s nicht!« »Und wo ist der Haken?« »Sie müssen in zwei Wochen anfangen.« »Dann ist es unmöglich, in zehn Tagen bin ich weg.« »Das Vorstellungsgespräch ist übermorgen.«

So ein Mist! Es WAR die Stelle, die ich suchte. Obendrein kam auch noch der damalige Vorgesetzte, zu dem ich ein sehr respekt- und vertrauensvolles Verhältnis hatte, und sagte: »Sandra, wenn Du den Job nicht annimmst, vergibst Du Dir was.« »Woher willst Du das denn wissen?« Ich hatte ihn zwar als Referenz angegeben, ihm von dem Angebot aber nichts Genaueres erzählt. »Na, man will sich doch ein Bild davon machen, wo man seine Leute hin gibt, oder? Ich hatte soeben ein langes Gespräch mit Deinem zukünftigen Chef und wir sind uns einig, dass Du die richtige Person für diese Aufgabe bist.« Punkt.

Die Sache war also klar, das Angebot war gut und ich war entscheidungsfreudig. So ein unbezahlter Urlaub würde sich bestimmt irgendwann nachholen lassen. (Tatsächlich sollte das dann erst 25 Jahre später der Fall sein.)

Ich hatte mich schon nach kurzer Zeit recht gut eingearbeitet, der neue Chef war toll, forderte viel, auf eine fördernde Art und Weise. Was ich nicht wusste, konnte ich nachfragen, er erklärte mir die Zusammenhänge oder gab mir einen Tipp, wie und wo ich Antworten auf meine Fragen finden würde. Ich ließ mir die Fabrik zeigen, die Produktionsprozesse, jede einzelne Maschine. Ich sprach mit den Menschen, die ihren Arbeitstag in der Fabrikhalle verbrachten und lernte, ihnen und den Produkten, die sie herstellten, eine hohe Wertschätzung entgegen zu bringen. Haben Sie zum Beispiel gewusst, dass jeder einzelne Henkel an einer Porzellantasse von Hand dort angebracht wird?

Diese Neugier und der Wissensdurst, mit dem ich auf die neuen Kolleginnen und Kollegen zuging, war wohl für einige überraschend. Die Fabrikationshalle war durch eine Straße von den Bürogebäuden getrennt und die räumliche Trennung fand auch in den Köpfen der Menschen statt. Einige dachten wohl, ich sei ein junger, übermotivierter Schnösel und andere fanden es schade um ihre Zeit, mir etwas zu erklären, das ich (als Frau) sowieso nicht verstehen würde. Die meisten Mitarbeiter waren jedoch erfreut, dass jemand »aus der Verwaltung« sich für ihre Arbeit interessierte, und gaben bereitwillig Auskunft. Es sind daraus gute Ideen entstanden, wie man das eine oder andere verbessern konnte und ich brachte die Erkenntnisse im Finanzbericht erläuternd ein.

So vergingen ein paar spannende Monate, bis mein Vorgesetzter mich um ein Gespräch bat. Er teilte mir mit, dass der Konzern einige Umstrukturierungsmaßnahmen beschlossen hätte, die auch das Finanzwesen betreffen würden. Er selber sei neu nicht mehr für die Finanzen, sondern für die Logistik zuständig und er habe der Geschäftsleitung vorgeschlagen, mich zur Leiterin des Finanz- und Rechnungswesens zu ernennen. Er traue mir das zu und zudem sei er im Notfall bei Fragen ja noch da. Glauben Sie mir, ich habe keine Ahnung, welcher Teufel mich geritten hatte, als ich ohne zu überlegen selbstbewusst zu verstehen gab, dass ich mich durchaus für fähig hielt, die Aufgabe zu übernehmen.

Keine Sekunde hatte ich daran gedacht, dass diese Position nicht nur fachliche Anforderungen an mich stellen würde. Ich war naiv genug zu glauben, dass die Aufgaben zwar anspruchsvoller werden, alles andere jedoch einfach so weiter gehen würde. Es lag außerhalb meiner untaktischen Vorstellungskraft, dass sich das Bild der Mitarbeiter über meine Person dadurch ändern könnte, war ich doch immer noch die gleiche.

Was beschlossen war wurde kommuniziert, Frau S. wird befördert und freut sich auch noch darüber. Eine selbstbewusste junge Frau, die sich für fähig hält und mit triumphierendem Lächeln durch die Gänge marschiert, weil sie »es geschafft« hatte wie Melanie Griffith als Tess McGill in »Die Waffen der Frauen«. Ob sie einen Harrison Ford zu Hause hatte, der ihr morgens das Pausenbrot schmiert?

Zu jener Zeit nannte man das eine Karrierefrau. Diese Bezeichnung war untrennbar verbunden mit anderen Ausdrücken wie »sich hoch schlafen« (hat sie sich nicht schon von Anfang an bei allen angebiedert?) oder »Günstling« (wie hat sie es wohl geschafft, »den Alten« zu blenden?). Eine Frau im besten Alter um Kinder zu kriegen sollte sich eher einen Mann suchen, mit dem sie das Projekt Familie verwirklichen konnte. Dass sie keinen hatte, sprach ebenfalls Bände.

Die Veränderungen fanden im Kleinen statt. »Gehst Du jetzt trotzdem noch Deinen Kaffee selber holen?« »Wechselst Du Dein Büro ins Hauptgebäude?« Die Büros des Finanz- und Rechnungswesens waren in einer Holzbaracke untergebracht, einem ewigen Provisorium. Mir wurde klar, dass dies von einigen als Klasseneinteilung angesehen wurde, was überhaupt nicht stimmte. *Die mehr besseren« durften im Hauptgebäude sitzen. »Dürfen wir Dir jetzt noch Du sagen?« »Jetzt setzt Du Dich in der Kantine wohl nicht mehr an unseren Tisch.« Die Fragen hatten einen Unterton, der mich total überraschte. Die waren gar nicht scherzhaft gemeint, was ich schon bald am Kantinentisch feststellen sollte. Ging ich nicht Punkt zwölf Uhr mit, weil ich noch etwas erledigen wollte, war das plötzlich ein Zeichen, dass ich nicht mehr mit ihnen zusammen gehen mochte. Gespräche verstummten, wenn ich mich später dazu setzte.

Am meisten geprägt hat mich jedoch etwas anderes. Ich brütete gerade konzentriert über dem monatlichen Finanzbericht, als ein Poltern auf die Holzstiegen der Bürobaracke fegte. Jemand riss die Eingangstüre auf, schritt in mein Büro und baute sich dort auf. Der ältere, braun gebrannte Mann in Freizeitkleidung stemmte seine Fäuste in die Hüften und holte tief Luft: »Sie wurden zur Prokuristin befördert??!!« schnaubte er und ließ seinem Ärger mit hochrotem Kopf weiter Lauf: »Was haben Sie überhaupt für eine Ausbildung??«

Ich war total perplex. Da stand ein Mann, den ich noch nie getroffen hatte, und griff mich an. Seine Haltung und die Worte, die er ausposaunte, machten unmissverständlich klar, dass er mich für eine Fehlbesetzung hielt und signalisierten, dass ER, hätte er ein Mitspracherecht gehabt, sich nicht für mich entschieden hätte. Mir gingen in nur einer Sekunde tausend Gedanken durch den Kopf. Mir war klar, dass es sich wahrscheinlich um meinen Vorgänger handelte, der kurz vor meiner Anstellung pensioniert worden war. Ich hatte schon viel von ihm gehört und wusste, dass er die Abteilung patriarchalisch geführt hatte und ein Mensch war, der keine Fehler machte.

Ich wusste überhaupt nicht, wie ich reagieren sollte. In den umliegenden Büros war es mucksmäuschenstill geworden. Das Einzige, was mir in den Sinn kam, war: »Guten Tag, ich bin Sandra S., Sie müssen Herr Z. sein, oder?« Jetzt war es an ihm, perplex zu sein. Da saß eine Person in seinem ehemaligen Büro, an seinem ehemaligen Schreibtisch an seinem ehemaligen Computer, neben seinen ehemaligen Untertanen und hatte keine Ahnung, mit wem sie es hier zu tun hatte und stand nicht mal auf, um ihm den Respekt zu erweisen, den er verdient hatte.

»Glauben Sie im ernst, Sie könnten diesen Laden hier führen und Vorgesetzte von Mitarbeitern werden, die so lange hier arbeiten, wie Sie alt sind, Frau S.?« Ein neuer Aspekt, den ich mir nicht überlegt hatte. »Sie werden mich noch kennen lernen, Frau S. Ich bin im Stiftungsrat der Personalfürsorgestiftung, deren Bestehen man umsichtigen Führungskräften verdankt, die in der Lage waren, die Zukunft zu gestalten. Das war zu jener Zeit, als alles seine Ordnung hatte.« Meine Position brachte es mit sich, das Präsidentenamt dieser Stiftung zu übernehmen. Ich fand es jetzt doch besser, mich auch zu erheben und stellte mich vor ihn. »Das freut mich, Herr Z., ich werde nächste Woche die Einladung zur Sitzung verschicken, die bekanntlich in drei Wochen stattfinden wird.« »Auf Wiedersehen, Frau S.« »Auf Wiedersehen, Herr Z.«

Man erzählte mir später, Herr Z. wäre fast dreißig Jahre für den Betrieb tätig gewesen und hatte sich »hochgearbeitet«. Zu jener Zeit wurde einem vor der Prokura die Handlungsvollmacht erteilt, und dies erst nach mindestens 10 Jahren Dienst. Die Prokura hatte man ihm erst im letzten Drittel seiner Tätigkeit erteilt und das war eine sehr große Ehre gewesen. Nun, ich möchte auf keinen Fall den Wert jahrelanger Loyalität mindern, Ehre, wem Ehre gebührt.

Ich selbst hatte das mit der Prokura so verstanden, dass ich die brauche, um die an dieser Position notwendigen Unterschriften leisten zu können. Es ging um meine Funktion, um Entscheidungen, die zu treffen waren, und Dokumente, die ich zu unterzeichnen hatte. Mir war klar, dass mein Arbeitgeber mit damit großes Vertrauen entgegen brachte – aber Ehre?

Ich erkannte jedoch, dass die Firma im Umbruch war, alte Strukturen wollten durchbrochen sein und neue Wege entdeckt werden. Ich war Teil dieser Veränderungen und begriff, dass ich nicht zuletzt deshalb mit ins Boot genommen wurde. Es sollten noch viele Herausforderungen auf mich zukommen und ich hatte mir geschworen, sie allesamt so anzugehen, wie ich es mit Herrn Z. gemacht hatte: Freundliche Offenheit, ehrliches Interesse und vor allem: Mich selber bleiben. Ich wollte mich nicht verbiegen, hatte keine Lust, mich von Drohungen aus dem Konzept bringen zu lassen.

Wie sich gezeigt hat, war das ein guter Entschluss und ich muss Herrn Z. dankbar sein, dass er mir dabei »geholfen« hat.

Der Schnurrbart auf Nietzsches Bett

Das Engadin lag in Neuschnee gebettet und schlief unter funkelndem Sternenhimmel. Stille hatte sich über die Täler ausgebreitet, unbemerkt verstrich die blaue Morgenstunde und begrüßte mutterseelenallein das farbenspendende Tageslicht. Nietzsches Schnurrbart, in weißen Gips gegossen, lag wie eine riesige Bettdecke auf dessen ehemaligem Schlaflager in Sils Maria.

Man kann es mir also nicht verübeln, dass ich diesen bleiernen Frühmorgen verschlief. Nun, der nächste Bus hatte auch gereicht, um rechtzeitig im Nietzsche-Haus in Sils Maria anzukommen. Die kleine Tour durch den Wirkungsort des Philosophen war jedoch auf später verschoben. Ich möchte erwähnen, dass ich mich zuvor nie mit Nietzsche auseinandergesetzt habe und dieser Bericht keinen Anspruch auf wissenschaftlichen Wert, Richtigkeit oder Vollständigkeit erhebt.

Dr. Peter André Bloch begrüßte die Besucher herzlich und man sah ihm die Freude über das Interesse an der Führung an. Bloch ist Germanist und wohnt im »Unterland«, wie die Engadiner sagen. Schon sein eigenes Leben und Wirken wären einen Blogbeitrag wert. Er hat sich sehr um die Kultur verdient gemacht und seine „Werkstatt-Gespräche“ sind ein Begriff. Er hat diese Form von Auseinandersetzung mit Literatur und Philosophie schon als Freund von Dürrenmatt und später für seine Studenten umgesetzt. Noch heute kann man im Nietzsche-Haus Zimmer mieten und eine ähnliche Form davon praktizieren. Bloch setzt sich seit vielen Jahren für die Stiftung Nietzsche-Haus ein, und das mit ungebrochenem Elan. Er feiert heuer den 79. Geburtstag.

Aber jetzt bin ich abgeschweift.

Bloch ist fasziniert von Nietzsche und referierte leidenschaftlich über dessen Leben und Werke. Immer wieder baute er Textpassagen sowie Kompositionen und Lieder ab CD in seine Erzählungen ein. Die etwa 20 Besucher saßen recht eng beieinander in der kleinen Stube des alten Hauses, es war eine „heimelige“, entspannte und fast familiäre Atmosphäre. Schon als Kind vermochten mich Geschichtenerzähler in andere Welten zu versetzen, Bloch gelang dies mit seiner lebhaften Art ebenfalls spielend.

Ich lauschte der zauberhaften Musik, die Nietzsche bereits als Junge komponiert hatte und einigen Liedern und Texten, die er als Jugendlicher schrieb. Ich erfuhr über seine Familie, davon, dass er schon sehr jung in die Fußstapfen des viel zu früh verstorbenen Vaters trat und dass Frauen in seiner Jugend wohl die Hauptrollen spielten. Beeindruckend, dass er im Alter von (wenn ich mich recht erinnere) 24 nach Basel kam, um dort einen Lehrauftrag anzunehmen.

Nietzsche verbrachte in Sils Maria sieben Sommer. Er mochte das Klima und die Stille. Zum ersten Mal in St. Moritz angekommen, wollte er offenbar postwendend umkehren, weil es nach seinem Geschmack zu viele Menschen hatte. Am Bahnhof waren etwa zehn Personen ausgestiegen, man stelle sich die heutigen Besucherzahlen vor!

Natürlich liebte er die einzigartige Natur und unternahm lange Wanderungen, alles hinlänglich bekannt. Die Augen damals bereits empfindlich getrübt, notierte er seine Eindrücke unterwegs schier blindlings in Notizbücher. Diese schickte er nach Venedig, wo sie Heinrich Köselitz ins Reine schrieb und wieder ins Engadin zurück sandte.

Die bescheidene Kammer im Haus hielt Nietzsche stets abgedunkelt. Er saß dort an seinem Tisch, auf dessen abgenutztem Blatt ein tannengrünes Wolltuch lag. In sich gekehrt und den Gedanken zugewandt, konnte er in Ruhe über Moral, Macht und Verantwortung nachdenken und schreiben.

Heute stehen in der Kammer wieder die Original-Möbel, die der umtriebige Peter Bloch (nebst vielen anderen Dingen wie Originalschriften und Briefe etc.) in den letzten 45 Jahren beschaffen konnte.

Nach rund 1 1/2 Stunden (die Zeit verging im Flug) gab es noch eine Führung durch das Haus. Das muss man sich ansehen! Man trifft auf viele „alte Bekannte“, große Namen und große Geschichten, die ich unkommentiert nicht aufzählen möchte. Unzählige Dokumente erzählen aus jener Zeit und es gibt eine prächtige Bibliothek, die man für Studien nutzen darf. Ein paar „Bewohner“ arbeiteten konzentriert an diversen Themen. Ich kann mir gut vorstellen, dass Nietzsche Freude an der Lebendigkeit seiner Gedanken hier empfinden könnte. Oder auch nicht, war er doch gleichwohl ein resoluter Eigenbrötler.

Unerwartet begegnete ich Anne Frank und ihren Tagebüchern. Als Teenager hatte ich sie gelesen und als beeindruckende Art und Weise von Geschichtsunterricht aufgenommen. Das ging mir nah und mir wurde damals bewusst, was die Generation vor mir im Krieg durchlitten hatte.

Anne Frank hatte eine Tante im Engadin. Die Ausreise dort hin war ihr allerdings verwehrt, aus bekannten Gründen. In den Tagebüchern schrieb die junge Frau von den Sommerferien, die sie im Engadin verbrachte. Sie sehnte sich danach, „wenn das alles hier vorbei ist“, ins Engadin zu reisen. In St. Moritz wollte sie Lippenstift und Seidenstrümpfe kaufen und eine berühmte Schauspielerin werden. Unbedingt wollte sie lernen, Schweizerdeutsch zu sprechen, um eine Rolle in einem Schweizer Heimatfilm zu bekommen. Leider ein unerfüllter Lebenstraum, ein Entwurf, der sich nicht ins Reine geschrieben hat. Ich war sehr berührt und auch jetzt, wo ich darüber schreibe, spüre ich diesen Kloß im Hals.

Am Schluss der Führung habe ich mir in der Bibliothek einige dünne Bände gekauft (keine Wälzer, die ich dann doch nicht lesen würde). Eine „Philosophische Einführung“ – weil man mir mal sagte, Nietzsche sei immer ein paar Gedanken wert. Einen Gedichtband, eine kleine Auswahl mit den bekanntesten Aphorismen zum Thema Mensch und schließlich „Nietzsche über die Frauen“ (war ja klar, oder?).

Ich habe für mich mitgenommen, dass der Mensch ein Entwurf ist. Einer, der seine eigene Sprache finden soll und sich selbst verwirklichen. „Werde, wer du bist“. Ich stelle mir das ein bisschen wie ein offenes Buch mit weißen Seiten vor. Und wer möchte nicht auch gern seine eigene Sprache finden?

Ach, jetzt hätte ich fast das Wichtigste vergessen – das mit dem Schnurrbart auf Nietzsches Bett. Das kam nämlich so: Vor ein paar Jahren berichtete eine aufgeregte Besucherin Herrn Bloch, die Nietzsche-Kammer sei von innen abgeschlossen und man höre die Bettfedern ächzen. Belustigt entgegnete Bloch, da könne man wohl nichts machen, die »Übeltäter« müssten ja irgendwann das Schlafgemach wieder verlassen. Das taten sie nach unverbriefter Zeit. Es kam an den Tag, dass es sich um ein Flitterwochen-Paar aus Italien handelte. Die Frischvermählten erhofften, der Welt dereinst ein kluges Kind zu schenken, und setzten dabei voll auf Nietzsches Geist. Wer würde diesem nicht zutrauen, dass er das hinkriegt, war Nietzsche doch ohne Fehler – zumindest nach Blochs voreingenommener Meinung. Wie auch immer, man erachtete es anschließend als angebracht, das Bett des Philosophen mit dessen in Gips gegossenen Schnurrbart zu belegen.

Und so wären in dem alten Haus in Sils Maria noch viele Geschichten zu entdecken. Ich war nach diesen zwei Stunden sehr berührt, aufgewühlt und begeistert. Als ich das Gebäude verließ, war es ein bisschen, als ob ich wieder in eine andere Welt eintreten würde.

In wessen Hände

In wessen Hände legst du dein Leben?

In die deines dir liebsten Menschen, dem du uneingeschränktes Vertrauen entgegen bringst, weil du weißt, dass er es niemals missbrauchen würde? In die Hände des deutschen Narkosearztes, den du bis kurz vor dem Eingriff noch nie gesehen hast? In die steril vorbereiteten Hände des ungarischen Chefarztes der Neuroradiologie, der sie konzentriert vor seiner Brust hält und darauf wartet, dass er dir einen Katheter in die Arterie einführen kann, um von deiner Leiste über die Aorta bis zu deinem Gehirn zu gelangen? Oder legst du dein Leben in die Hände des polnischen Lastwagenchauffeurs vor dir, der mit seinem behaarten Unterarm winkt, was wohl bedeutet, dass die Gegenfahrbahn frei ist und du überholen kannst? Legst du dein Leben in die Hände deines kriegserfahrenen Kommandanten, der dir Rückendeckung verspricht, während du den Feind angreifst? Oder würdest du dein Leben in die Hände eines dir unbekannten Menschen unbekannter Nationalität legen, dessen Sprache du nicht verstehst, der dir aber zu verstehen gibt, dich mit 70 anderen Menschen in einem LKW über die Grenze in den Frieden zu fahren?

Welche Rolle spielen die genannten Nationalitäten in deinen Überlegungen, ob du dein Leben in die Hände dieser Menschen legen sollst? Legst du überhaupt jemals dein Leben in die Hände jemandes – und hattest du dabei bislang das Privileg der Wahl?

Ein Semesterende in 5 Teilen

1. Lehrerwahl
Ausgerechnet Pitzi Blödmann! Das hatte ihr gerade noch gefehlt, dass sie die Projektarbeit vor den Sommerferien mit diesem großkotzigen, ignoranten Kerl zusammen erarbeiten soll. Es war doch von vornherein klar, dass die ganze Arbeit ihr anhaften würde. Der blond gelockte Strahlemann hatte bestimmt nicht vor, seine wertvolle Zeit damit zu vergeuden, einen Tag lang draußen die Vögel am Bach zu beobachten. Geschweige denn, anschließend eine Klausurarbeit inklusive Text und Zeichnungen über das Gesehene zu gestalten. Und schon hielt ein besonders lustiger Klassenclown ein eiligst gekritzeltes Blatt Papier hoch: »Vögel(n) am Bach«. Ha ha ha. „Mit DER doch nicht“ bezeugte sein spöttischer Blick in die Schulklasse des Gymnasiums, als der Lehrer die Zuweisung der Themen auf die von ihm festgelegten »Paare« bekannt gab.

Anna hatte nicht vor, dieses Spiel mitzumachen, zudem konnte sie auf die Kränkungen gut verzichten. Also schnappte sie ihr Notizbuch, das Zeichenheft und die Stifte, schlüpfte in ihre Jeansjacke und machte sich auf zum nahe gelegenen Bach. Ihre Lieblingsstelle lag ganz in der Nähe der alten Holzbrücke, da, wo der Wasserlauf verzweigte, um etwa hundert Meter weiter vorne wieder zusammenzufließen. An diesem Abschnitt war die Böschung nicht so steil und man konnte es sich recht bequem machen. Wenn der Bach nur wenig Wasser führte, gelang es mit einem beherzten Sprung sogar, die kleine Insel, die an jener Stelle entstanden war, zu erreichen. Bestimmt würden da einige Vögel auftauchen, über deren Verhalten sie ein paar Seiten schreiben konnte. Das mit dem Zeichnen machte ihr weit mehr Sorgen, ihre ungelenken Zeichenstriche ließen den Betrachter selten erkennen, was sie da mit Farbstiften zu Papier hatte bringen wollen. Sie legte sich ins Gras und fing an, sich Gedanken über die blöde Projektarbeit zu machen. „Vögel am Bach“, das würde kein Knüller werden. Während sie ihren Gedanken nachhing, war es still geworden um sie herum.

2. Vögel am Bach
„Na, Anna, kommst du gut voran?“ Blondlocke Pitzi war aufgetaucht und setzte sich neben sie. „Was tust DU denn hier?“ Sie war überrascht, dass er sie gefunden hatte, oder eher erstaunt, dass er sich überhaupt auf den Weg gemacht hatte, sie zu suchen. „Na, ist doch schön hier, da wird man sich den Tag schon vertreiben können.“ „Ja klar, und wer schreibt die Arbeit?“ „Renk dich ein, wir haben genug Zeit, lass uns das gemütlich angehen.“ Sie verkniff sich eine trotzige Antwort und fing an, nach dem ersten Vogel Ausschau zu halten.

„Hast du Zigaretten?“ Seine Frage erstaunte sie wenig, er war ein Schnorrer. „Ja, klar. Du nicht?“ „Jetzt sei doch nicht so, kriegst sie zurück.“ Was soll’s, dachte sie, auf die eine Zigarette kam es auch nicht an. So pafften sie schweigend vor sich hin, sichtlich bemüht, die Lungenzüge cool aussehen zu lassen und die aufkeimenden Hustenreize tunlichst zu unterdrücken.

„Na ihr zwei, Schule schwänzen, hä?“ Der Alte war mit seinem Hund unterwegs und erschreckte die beiden gehörig. Geschickt ließ Anna ihre halb gerauchte Zigarette verschwinden. Pitzi fing sich sofort und machte weiter einen auf lässig. „Nö, Vögel beobachten, Projektarbeit heißt das heute!“ Ein selbstbewusster Pitzi wusste sich eben stets zu helfen. Der Alte lachte vor sich hin und blickte über die Wiese zu seinem unweit gelegenen Hof. Er sah etwas verschroben aus in seiner zu kurzen Hose, in welcher ein helles Unterhemd steckte, und die von einem ausgeleierten Hosenträger gehalten wurde. „Vögel, von wegen. Heute gibt es hier doch nur noch Piepmätze! Früher, als der Bach nicht reguliert war, trat er regelmäßig über die Ufer und schwemmte die Felder bis zu meinem Hof. Überall Wasser. Da gab es jede Menge Störche und Fischreiher zu sehen! Die hatten ein Festmahl, so viele Frösche wie zu holen waren.“ „Echt?“ Jetzt war Pitzi offenbar interessiert. „Dann war der Radweg ja gar nicht mehr befahrbar, oder?“ „Radweg! Junge, damals gab es keinen Radweg, der wurde erst mit dem Damm gebaut. Ja ja, das sah hier alles ganz anders aus.“

Anna hatte den alten Mann mit seinem Hund schon oft hier gesehen, jedoch noch nie mit ihm gesprochen. Er war ihr immer etwas verstockt vorgekommen mit dem schlurfenden, gebückten Gang und einem kalten Stumpenrest im Mund. Jetzt fand sie ihn eigentlich recht sympathisch und das brachte sie auf eine Idee. „Würden Sie uns mehr erzählen aus dieser Zeit? Für die Projektarbeit?“ Pitzi staunte und schaute sie fragend an. „Na,“ flüsterte sie ihm zu „hat ja niemand gesagt, wir müssen eine Gegenwartsgeschichte schreiben, oder?“

„Wenn ihr meint, von mir aus. Heute ist Freitag, da bäckt meine Frau immer einen Kuchen. Kommt doch mit, dann trinken wir dazu einen Tee und ich zeige euch die alten Fotos.“ Anna sagte begeistert zu und Pitzi war ganz still geworden.

3. Anderswelt
Pitzi fühlte sich in der vorsintflutlichen Küche sichtlich unwohl. Er war den Rauch vom Holzofen nicht gewohnt und die vom Ruß geschwärzten Wände fand er gruselig. Aus dem Stall drang Viehgeruch ins Wohnhaus und in der Küche schwirrten Fliegen umher. Die Bäuerin hatte tatsächlich einen Kuchen gebacken und kochte nun Teewasser, während der alte Bauer in der Wohnstube das Holzbuffet nach den Fotos durchsuchte. „Ich heiße Anna, und das ist Pitzi, äähh Peter. Wir schreiben eine Klausurarbeit über die Vögel am Bach. Es ist wirklich sehr nett von Ihnen, dass Sie uns dabei helfen.“

Inzwischen hatte Pitzi sein Zeichenbuch gezückt und mit ein paar wenigen Bleistiftstrichen den Holzofen mit der dampfenden Pfanne darauf skizziert. Anna schielte über seine Schultern und stupste ihn frech an. „Hey, du kannst ja richtig gut zeichnen, hätte ich dir gar nicht zugetraut!“ „Na, wenn ich an dein Gekritzel im Zeichenunterricht denke, mache ich die Zeichnungen für unsere Arbeit wohl lieber selber.“ „OK,“ sah sie ein, „1:0 für dich.“

Der Bauer setzte sich zu ihnen an den Küchentisch und sortierte ein paar Fotos aus. »Hier, das muss etwa dreißig Jahre her sein. Diese Bilder hat der Zeitungsfotograf damals gemacht und sie uns anschliessend geschenkt.« Die Schwarz-Weiss-Fotos steckten in einer Kartontüte und waren bereits leicht vergilbt. »Das Wasser hat die kleinen Fische bis auf das Feld geschwemmt. Die Graureiher konnten die zappelnden Tierchen im Spaziergang schnappen. Und hier, gleich fünf Störche haben sich den Bauch neben unserem Stall vollgeschlagen.« Als die Bäuerin eines der Fotos in die Hand nahm, blieben ihre trüben Augen daran hängen und ein Lächeln erhellte kurz ihr Gesicht. Sie streifte die Fingerkuppen sanft über das Bild und sagte »Schau, Kind, da stehst du vor dem Haus, mit dem Bäri.« Anna und Peter schauten erst die alte Frau und dann einander verwundert an. Der Bauer zog sein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und und als er sich damit die müden Augen rieb, war es still geworden in der Küche.

4. Zur Sache
Einen halben Apfelkuchen später hatten sie genug Material für die Arbeit zusammen und der Bauer gab ihnen sogar ein paar der Fotos mit. Sie verabschiedeten sich dankend beim alten Ehepaar und gingen zurück zum Bach. „Siehst Du, alles easy. Ich sag doch, man muss so was langsam angehen.“ „Ja ja, alles easy. Vor allem der coole Obermacker aufm Bauernhof. Wie erklärst du das bloß deiner Mutti, dass du nach Kuhstall riechst?“ Kaum hatte sie es ausgesprochen, tat es ihr ein wenig leid, dass sie ihn wieder pikste. Er schien es gelassen zu nehmen, pflückte ein Gänseblümchen und legte sich in die Wiese. „Sie liebt mich, sie liebt mich nicht. Sie liebt mich, sie liebt mich nicht. Sie liebt mich.“ „Was soll das denn, machst du hier jetzt einen auf romantisch oder was?“ »Du bist zickiger, als ich dachte.« Das saß.

»Ist sowieso spät geworden, ich mach mich auf den Heimweg.« »Spät ist um die Zeit nur für Streberinnen. Wir können das nächste Woche zu Papier bringen.« »Ach, und was hast du vor? Gänseblümchen pflücken?« »Lass uns eine rauchen.«

»Hast du es schon mal getan?« »Was?« »Na, was schon!« »Wieso sollte ich das ausgerechnet dem Obermacho meiner Klasse erzählen?« »Du bist also nicht nur zickig, sondern auch verklemmt.« »Dann zeig mir, wie’s geht, und erzähl erstmal von dir. Wie war’s denn so mit Nikita, hm?« Er nahm einen Zug der Zigarette, drückte den Stummel zwischen Daumen und Mittelfinger zusammen und spickte ihn in den Bach. Nachdem er den Rauch geräuschvoll durch die rund geformten Lippen gepresst hatte, verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und legte sich ins Gras, den Blick in den blauen Himmel gerichtet. Er wandte seinen Kopf auf ihre Seite und sah sie unvermittelt an. »Gar nicht.« »Wie bitte?? DAS Gesprächsthema an der Schule seit über einer Woche – und es war nichts? Du willst mich doch veräppeln!«

Blondlocke blinzelte in den Sommerhimmel und zuckte mit der Schulter: »Die Leute reden gerne, das weißt du genau.« »Jetzt hör aber auf, weder du noch Niki haben das abgestritten, und jetzt willst du behaupten, es war eine Zeitungsente. Im übrigen geht es mir am Arsch vorbei, mit wem du ins Bett steigst, das ist deine Sache. Ich will nur nicht zum Tagesgespräch werden, wenn du morgen irgendeinen Mist rausposaunst. That’s all.«

»Niki und ich waren grad so richtig in Fahrt gekommen mit rumknutschen. Just in dem Moment, als ich an ihrem Reißverschluss rummachte, kam mein kleiner Bruder ins Zimmer.« »Kleinen Brüdern kann man Geld für ein Eis geben, dann verziehen sie sich wieder, oder?« »Er war aufgeregt, weil er im Garten eine Blindschleiche gefunden hatte. Die brachte er mit nach oben, um sie mir zu zeigen. Niki kreischte angewidert und machte sich aus dem Staub. Was weiß ich, was sie mit ihren auf Neuigkeiten wartenden Freundinnen tratschte. Mich hat keiner gefragt.«

»Tut mir echt leid, wenn ich dich auslache, aber du musst zugeben, die Geschichte ist amüsant.« »Es spielt so oder so keine Rolle, nach diesem Semester bin ich wieder weg.« »Wieso das denn, lässt Du das letzte Schuljahr etwa aus?« »Nein, ich absolviere es nur nicht hier. Meinen Eltern gefällt es wohl doch nicht auf dem Land, wir ziehen um nach Basel.« »Cool! Da wär ich sofort dabei, freust du dich etwa nicht?« »So cool ist es nicht, alle zwei Jahre umzuziehen, glaub mir.«

Peter wandte sich ihr zu und stützte sich lässig auf den Ellbogen. Er setzte sein verschmitztes Grinsen auf, zwischen den Zähnen einen Grashalm, und sah verdammt gut aus. »Heute wär ein Wetter, um Dichter zu zeugen, vielleicht möchtest du ja die Gelegenheit ergreifen?.« »Hau bloß ab!« Und grade, als sie dies sagte, war es still geworden am Bach.

5. Semesterende
»Es geschehen noch Zeichen und Wunder!« Der Biologielehrer eröffnete die Stunde – es war die letzte der Projektwoche und läutete somit die Sommerferien und den Semesterwechsel ein. Anna hatte nie verstanden, wen er mit seinen doofen Sprüchen beeindrucken wollte, bei ihr klappte es auf jeden Fall nicht. Heute würden sie die Klausurarbeiten zurück bekommen und die Noten dazu erfahren. In Biologie bedeutete das stets ein Spießrutenlauf, der Lehrer genoss es sichtlich, die jeweils besten Arbeiten gegen die miserabelsten auszuspielen. Anna war in Bio Mittelmaß und ganz glücklich darüber. So musste sie ihre Arbeiten nie vor der Klasse präsentieren und wurde dafür auch nicht klein gemacht.

»Einige von euch haben mich überrascht – ich hätte nicht gedacht, dass ihr euch so dreinhängt in die Arbeiten. Nun, es gibt auch jene, bei denen ich überhaupt nicht überrascht bin, aber das wird euch nicht überraschen.« Die Klasse nahm die für den Lehrer typischen Bemerkungen mit Seufzern und theatralischen Augenrollern zur Kenntnis. Angespannt waren nur jene Schüler, deren Versetzung ins nächste Semester von dieser Note abhängig sein würde. Wie Peter zum Beispiel.

Die Inszenierung begann. »Martin und Evelyn zum Thema Im Bienenstock. Keine Überraschung.« Durchgefallen. »Petra und Marion – Feldblumen. Immerhin, der gute Wille ist zu erkennen.« Könnte eine genügende Note bedeuten. Und so ging es weiter, der Lehrer verteilte die Arbeiten mit entsprechenden Kommentaren an die Schüler, angefangen bei der schlechtesten Note. Und gerade, als Anna und Peter sich fragend anschauten und dachten, der Lehrer hätte ihre Arbeit vergessen, da trat der Biolehrer vor Peters Pult.

»Peter und Anna zum Thema Vögel am Bach.« Bühnenreife Pause. Kindisches Kichern in der Klasse. Austausch vielsagender Blicke. »Grandios! Seriöse Recherche. Dokumentarisch hinterlegt. Großartige Zeichnungen. Fabelhafter Text. Eine glatte Sex!« Anna wich das Blut aus dem Gesicht. Sie sah buchstäblich alles den Bach runter gehen, genau so, wie sie es erwartet hatte. Anna wagte einen Blick in die Runde, die sich auf den Spott vorbereitete. Tuscheln. Als sie ihren Blick Peter zuwendet, schmunzelt der Macho zufrieden vor sich hin. Als er verheißungsvoll mit der rechten Augenbraue zuckte, war es still geworden im Klassenzimmer. 

 

Suppe mit Spatz

In der kleinen, längst veralteten Gaststube, die gut zu einem Drittel aus dem Ausschankbuffet besteht, weht über den einsamen Tischen der Geist vergangener Stammtischrunden. Obwohl seit Jahren rauchfrei, sind die weiss-grauen Wolken ausgestoßener Zigarrenluft präsent und beißender Geruch schleicht sich in die Erinnerung der spärlich eintreffenden Gäste.
Nein, die langjährige Serviertochter schlängelt sich nicht mehr durch die eng aneinander stehenden Gasthausstühle, als tanze sie mit ihnen Tango. Der Wirt erzählt von besseren Tagen, die vor der Krankheit ihr Leben bestimmt und bereichert hatten.
Was geblieben ist – unerschütterlich all die Jahre – ist die Menukarte. Ein sicherer Wert auf eingeschweißtem Papier, Tradition, an der man hier festhält. Und so stellt der Wirt den Suppenteller mit den üblichen drei Tranchen Siedfleisch und die große Suppenschüssel zum Nachschöpfen auf den kleinen, ovalen Tisch. Mein Lieblingstisch, an der Nische zum Balkonfenster. »Ohne Markknochen und ohne Senf, wie früher, oder?« »Ja, wie immer, ich danke dir.«
Die alte Dame am Nebentisch durchforstet das Wochenblatt nach Nachrichten, die sie nicht schon in der Migros vernommen hat. Etwas Ungeheuerliches, mit dem sie als Minnesängerin durch die Gasthäuser der Stadt ziehen könnte, jene Stuben, die es besser mit ihr meinen als ihr eigenes, einsames Wohnzimmer zu Hause. »Bei Alma«, erzählt sie, »haben sie den Wintergarten eingeschlagen und den ganzen Schmuck mitgenommen!« »Man ist einfach nicht mehr sicher in der Stadt« hängt der Wirt ein. »Heute gibt es bei uns schon wieder keine einzige Zeitung, hat wohl einer geklaut vor der Türe.« »Na, die Zustelldienste sind auch nicht mehr, was sie mal waren.« Ein Ping-Pong-Gaststubengespräch zwischen Wirt, Gast eins und Gast zwei entwickelt sich und führt weiter vom Zeitungsklau zum FC Aarau (der ein notabene erstklassiges Potential völlig unbenutzt verkümmern lässt) zu den neu eingeführten Gebühren der Stadt, über das wieder eröffnete Rössli (keine Ahnung, wie der mit diesen Öffnungszeiten Geld verdienen will) zur Schwierigkeit, mit dem Rauchen aufzuhören und damit wieder zur viel zu spät erkannten Lungenentzündung der langjährigen Serviertochter. Ein bei allen sehr beliebtes Stadtoriginal ist sie, die sich nicht mehr auf den dünnen Beinen halten kann, auf denen sie all die Jahre Tischtango tanzte.
»So!« Er sprach dieses »So!« aus wie eines dieser lasst-uns-nicht-Trübsal-blasen-Sos. Fast schon glaubte ich, in diesem »So!« einen jetzt-wird-alles-besser-Grundton zu hören, ein Hoffnungsschimmer-So. Ich schließe mich der Aufbruchstimmung an, lobe das – wie immer – ausgezeichnete Pot-au-feu (was für ein gewagter neuer Ausdruck für Suppe mit Spatz!) und frage nach, ob es denn noch diese wundervollen Caramelchöpfli gäbe? »Ja, gerne.«
Ein ganz gewöhnliches, sich über die Jahre hinweg gerettetes »Ja gerne« legt sich über die Gedankenwolken der Gaststube und gesellt sich zu dem Seufzer, der das »So!« aus dem Fenster gefegt hatte.

Über fremdenfreundliche Menschen

Auf den Rückweg vom heutigen Spaziergang durch den nahe gelegenen Wald trafen wir an der Grillstelle auf eine Familie. Über dem Feuer lag eine Art Deckel, auf dem Glut und Asche aufgetürmt waren. Die Mutter wusch Gemüse am Brunnen und die erwachsene Tochter schichtete einen dünnen Teig in ein rundes Blech. Der Vater kümmerte sich um das Gemüse auf dem Grill und der ebenfalls erwachsene Sohn sass mit einem bunten Ball in seiner Hand auf der Holzbank und blickte ins Feuer.

Der mit Glut belegte Deckel machte mich neugierig und ich war so frei, die mir unbekannte Familie anzusprechen und zu fragen, ob etwas unter der Glut verborgen sei. In allen Gesichtern sah ich unvermittelt Freude über mein Interesse. Die Mutter deutete ihrer Tochter in einer mir fremden Sprache, sie soll mit mir reden und es mir erklären. Der Vater kam ebenfalls zu uns und erzählte uns in etwas gebrochenem Deutsch, dass es sich um eine Spezialität aus ihrer Heimat, dem Kosovo, handle.

In dem runden Blech, welches von einem etwa 5 cm hohen Rand umschlossen war, goss die Tochter eine weisse Sosse auf den vorher angebackenen Teig. Sie erklärte uns, dass es sich dabei um einen Pita-Teig handle, den sie selbst vorbereitet hatten. Die weisse Sosse sei Crème fraiche.

Der Familienvater erzählte uns, dass der Deckel mit der Glut auf den Blechrand gelegt würde, was uns prompt vorgeführt wurde. Das ganze müsse sehr sorgfältig vorbereitet werden, nicht zu viel Hitze, viel Geduld und Zeit. Ideal, an einem so wunderschönen Frühlingstag, da könnten sie Zeit zusammen verbringen und gemeinsam das Nachtessen vorbereiten. Nach dem Backen folgen dann weitere Schichten mit Teig und Crème fraiche, dazu wird das grillierte Gemüse serviert.

Mittlerweile gesellte sich auch der Sohn zu uns, er schien körperlich und geistig behindert zu sein. Unsere Anwesenheit machte ihn wohl etwas nervös oder er war einfach neugierig. Sein Vater strich ihm zärtlich über die Wangen, worauf sich der junge Mann beruhigte.

Ich bedankte mich bei der Familie für die Erklärungen und bemerkte, dass das sehr lecker aussah und auch der Duft war unglaublich verlockend. Der Vater meinte spontan, wir seien ganz herzlich eingeladen, mit ihnen zusammen zu essen. Leider dauere das noch ein rechtes Weilchen, weil noch ein paar Schichten sorgfältig gebacken sein wollten. Ich fühlte mich sehr geehrt und war berührt von dieser Gastfreundlichkeit uns ihnen doch völlig fremden gegenüber.

Leider mussten wir die Einladung ablehnen, was die Familie fast schon etwas enttäuschte. Der Vater erklärte uns, wo sie wohnten und er fragte, ob wir auch im gleichen Dorf zu Hause seien. Wir erklärten ihm, dass wir ganz in der Nähe wohnten, worauf er spontan vorschlug, uns eine Portion nach Hause zu bringen, damit wir nicht im Wald warten müssten.

Liebe Leser, ich weiss nicht, wie es euch geht, aber ich habe diese Menschen einerseits sofort in mein Herz geschlossen und anderseits um ihre offene, herzliche Freundlichkeit und um das gemütliche, entspannte Zusammensein beneidet.

Fremdenfeindlich, nein danke.