Ich kann noch immer
keine Wurzeln ziehen,
oder rückwärts gehen
ohne schielen,
Gurkengläser werd ich
nie geöffnet kriegen
und es wäre wohl vermessen,
wollt ich Dich
jemals vergessen.
Schlagwort: Erinnerungen
sprache ist heimat, heimat ist sprache
Ninna nanna, ninna oh
questo bambino a chi lo do?
Bin so klein, kann nicht verstehn,
kann nur ihre Lieder hörn
Se lo do alla befana
me lo tiene una settimana
Will nicht in die Ferne gehn
kann nicht in deine Stiefel stehn
Se lo do al bove nero
me lo tiene un anno intero
Ich geh fort und komm nicht wieder
doch der Wind singt ihre Lieder
Se lo do al lupo bianco
me la tiene tanto tanto
Und im Traum kehr ich zurück
finde Worte, Stück für Stück
Ninna nanna, nanna fate
il mio bimbo addormentate
..
Den Klang zum Gedicht findet
man im Schlaflied (ninna nanna)
..
sprache ist heimat, heimat ist sprache
Ein Impuls von Sophie Paulchen zur #frapalywo
http://www.paulchenbloggt.de
Karriere, Frau?
Das Stellenangebot kam zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Ich hatte soeben die höhere Fachausbildung zur dipl. Buchhalterin bestanden und meinen Job gekündigt, um drei Monate mit dem Motorrad gen Westen zu touren. Meine Güte, heute, mit 47 Jahren, kommt mir sofort der Gedanke: Wie jetzt, den Job gekündigt, ohne einen neuen zu haben?! Doch damals, mit 26, gut ausgebildet und in einem Land lebend, in dem das Wort Arbeitslosigkeit nur noch ein Schreckgespenst für Nachkriegsgenerationen war, konnte ich das getrost wagen.
Nun, ganz so war es auch nicht. Da ich zu jener Zeit als Single lebte, hatte ich meine Bewerbungsunterlagen einem in der Branche bekannten Stellenvermittler zukommen lassen. Die Abmachung war, dass er während dieser drei Monate eine geeignete Stelle für mich sucht, damit ich in nützlicher Frist nach der Rückkehr wieder arbeiten konnte. Ich war voll motiviert und hatte einen gut gepackten Rucksack an Wissen und Erfahrung für einen neuen, anspruchsvolleren Job.
Erstens kommt es anders, und zweitens geht es schnell. Noch bevor ich am Packen der Reisetasche war, kam der Anruf: »Ich habe einen exzellenten Job für Sie! Genau das, was Sie wollen: Finanzbuchhaltung in einem Produktionsbetrieb, Monatsabschlüsse, Konzernreporting, Mehrwertsteuer, Liquiditätsplanung, Budget etc. Spannender geht’s nicht!« »Und wo ist der Haken?« »Sie müssen in zwei Wochen anfangen.« »Dann ist es unmöglich, in zehn Tagen bin ich weg.« »Das Vorstellungsgespräch ist übermorgen.«
So ein Mist! Es WAR die Stelle, die ich suchte. Obendrein kam auch noch der damalige Vorgesetzte, zu dem ich ein sehr respekt- und vertrauensvolles Verhältnis hatte, und sagte: »Sandra, wenn Du den Job nicht annimmst, vergibst Du Dir was.« »Woher willst Du das denn wissen?« Ich hatte ihn zwar als Referenz angegeben, ihm von dem Angebot aber nichts Genaueres erzählt. »Na, man will sich doch ein Bild davon machen, wo man seine Leute hin gibt, oder? Ich hatte soeben ein langes Gespräch mit Deinem zukünftigen Chef und wir sind uns einig, dass Du die richtige Person für diese Aufgabe bist.« Punkt.
Die Sache war also klar, das Angebot war gut und ich war entscheidungsfreudig. So ein unbezahlter Urlaub würde sich bestimmt irgendwann nachholen lassen. (Tatsächlich sollte das dann erst 25 Jahre später der Fall sein.)
Ich hatte mich schon nach kurzer Zeit recht gut eingearbeitet, der neue Chef war toll, forderte viel, auf eine fördernde Art und Weise. Was ich nicht wusste, konnte ich nachfragen, er erklärte mir die Zusammenhänge oder gab mir einen Tipp, wie und wo ich Antworten auf meine Fragen finden würde. Ich ließ mir die Fabrik zeigen, die Produktionsprozesse, jede einzelne Maschine. Ich sprach mit den Menschen, die ihren Arbeitstag in der Fabrikhalle verbrachten und lernte, ihnen und den Produkten, die sie herstellten, eine hohe Wertschätzung entgegen zu bringen. Haben Sie zum Beispiel gewusst, dass jeder einzelne Henkel an einer Porzellantasse von Hand dort angebracht wird?
Diese Neugier und der Wissensdurst, mit dem ich auf die neuen Kolleginnen und Kollegen zuging, war wohl für einige überraschend. Die Fabrikationshalle war durch eine Straße von den Bürogebäuden getrennt und die räumliche Trennung fand auch in den Köpfen der Menschen statt. Einige dachten wohl, ich sei ein junger, übermotivierter Schnösel und andere fanden es schade um ihre Zeit, mir etwas zu erklären, das ich (als Frau) sowieso nicht verstehen würde. Die meisten Mitarbeiter waren jedoch erfreut, dass jemand »aus der Verwaltung« sich für ihre Arbeit interessierte, und gaben bereitwillig Auskunft. Es sind daraus gute Ideen entstanden, wie man das eine oder andere verbessern konnte und ich brachte die Erkenntnisse im Finanzbericht erläuternd ein.
So vergingen ein paar spannende Monate, bis mein Vorgesetzter mich um ein Gespräch bat. Er teilte mir mit, dass der Konzern einige Umstrukturierungsmaßnahmen beschlossen hätte, die auch das Finanzwesen betreffen würden. Er selber sei neu nicht mehr für die Finanzen, sondern für die Logistik zuständig und er habe der Geschäftsleitung vorgeschlagen, mich zur Leiterin des Finanz- und Rechnungswesens zu ernennen. Er traue mir das zu und zudem sei er im Notfall bei Fragen ja noch da. Glauben Sie mir, ich habe keine Ahnung, welcher Teufel mich geritten hatte, als ich ohne zu überlegen selbstbewusst zu verstehen gab, dass ich mich durchaus für fähig hielt, die Aufgabe zu übernehmen.
Keine Sekunde hatte ich daran gedacht, dass diese Position nicht nur fachliche Anforderungen an mich stellen würde. Ich war naiv genug zu glauben, dass die Aufgaben zwar anspruchsvoller werden, alles andere jedoch einfach so weiter gehen würde. Es lag außerhalb meiner untaktischen Vorstellungskraft, dass sich das Bild der Mitarbeiter über meine Person dadurch ändern könnte, war ich doch immer noch die gleiche.
Was beschlossen war wurde kommuniziert, Frau S. wird befördert und freut sich auch noch darüber. Eine selbstbewusste junge Frau, die sich für fähig hält und mit triumphierendem Lächeln durch die Gänge marschiert, weil sie »es geschafft« hatte wie Melanie Griffith als Tess McGill in »Die Waffen der Frauen«. Ob sie einen Harrison Ford zu Hause hatte, der ihr morgens das Pausenbrot schmiert?
Zu jener Zeit nannte man das eine Karrierefrau. Diese Bezeichnung war untrennbar verbunden mit anderen Ausdrücken wie »sich hoch schlafen« (hat sie sich nicht schon von Anfang an bei allen angebiedert?) oder »Günstling« (wie hat sie es wohl geschafft, »den Alten« zu blenden?). Eine Frau im besten Alter um Kinder zu kriegen sollte sich eher einen Mann suchen, mit dem sie das Projekt Familie verwirklichen konnte. Dass sie keinen hatte, sprach ebenfalls Bände.
Die Veränderungen fanden im Kleinen statt. »Gehst Du jetzt trotzdem noch Deinen Kaffee selber holen?« »Wechselst Du Dein Büro ins Hauptgebäude?« Die Büros des Finanz- und Rechnungswesens waren in einer Holzbaracke untergebracht, einem ewigen Provisorium. Mir wurde klar, dass dies von einigen als Klasseneinteilung angesehen wurde, was überhaupt nicht stimmte. *Die mehr besseren« durften im Hauptgebäude sitzen. »Dürfen wir Dir jetzt noch Du sagen?« »Jetzt setzt Du Dich in der Kantine wohl nicht mehr an unseren Tisch.« Die Fragen hatten einen Unterton, der mich total überraschte. Die waren gar nicht scherzhaft gemeint, was ich schon bald am Kantinentisch feststellen sollte. Ging ich nicht Punkt zwölf Uhr mit, weil ich noch etwas erledigen wollte, war das plötzlich ein Zeichen, dass ich nicht mehr mit ihnen zusammen gehen mochte. Gespräche verstummten, wenn ich mich später dazu setzte.
Am meisten geprägt hat mich jedoch etwas anderes. Ich brütete gerade konzentriert über dem monatlichen Finanzbericht, als ein Poltern auf die Holzstiegen der Bürobaracke fegte. Jemand riss die Eingangstüre auf, schritt in mein Büro und baute sich dort auf. Der ältere, braun gebrannte Mann in Freizeitkleidung stemmte seine Fäuste in die Hüften und holte tief Luft: »Sie wurden zur Prokuristin befördert??!!« schnaubte er und ließ seinem Ärger mit hochrotem Kopf weiter Lauf: »Was haben Sie überhaupt für eine Ausbildung??«
Ich war total perplex. Da stand ein Mann, den ich noch nie getroffen hatte, und griff mich an. Seine Haltung und die Worte, die er ausposaunte, machten unmissverständlich klar, dass er mich für eine Fehlbesetzung hielt und signalisierten, dass ER, hätte er ein Mitspracherecht gehabt, sich nicht für mich entschieden hätte. Mir gingen in nur einer Sekunde tausend Gedanken durch den Kopf. Mir war klar, dass es sich wahrscheinlich um meinen Vorgänger handelte, der kurz vor meiner Anstellung pensioniert worden war. Ich hatte schon viel von ihm gehört und wusste, dass er die Abteilung patriarchalisch geführt hatte und ein Mensch war, der keine Fehler machte.
Ich wusste überhaupt nicht, wie ich reagieren sollte. In den umliegenden Büros war es mucksmäuschenstill geworden. Das Einzige, was mir in den Sinn kam, war: »Guten Tag, ich bin Sandra S., Sie müssen Herr Z. sein, oder?« Jetzt war es an ihm, perplex zu sein. Da saß eine Person in seinem ehemaligen Büro, an seinem ehemaligen Schreibtisch an seinem ehemaligen Computer, neben seinen ehemaligen Untertanen und hatte keine Ahnung, mit wem sie es hier zu tun hatte und stand nicht mal auf, um ihm den Respekt zu erweisen, den er verdient hatte.
»Glauben Sie im ernst, Sie könnten diesen Laden hier führen und Vorgesetzte von Mitarbeitern werden, die so lange hier arbeiten, wie Sie alt sind, Frau S.?« Ein neuer Aspekt, den ich mir nicht überlegt hatte. »Sie werden mich noch kennen lernen, Frau S. Ich bin im Stiftungsrat der Personalfürsorgestiftung, deren Bestehen man umsichtigen Führungskräften verdankt, die in der Lage waren, die Zukunft zu gestalten. Das war zu jener Zeit, als alles seine Ordnung hatte.« Meine Position brachte es mit sich, das Präsidentenamt dieser Stiftung zu übernehmen. Ich fand es jetzt doch besser, mich auch zu erheben und stellte mich vor ihn. »Das freut mich, Herr Z., ich werde nächste Woche die Einladung zur Sitzung verschicken, die bekanntlich in drei Wochen stattfinden wird.« »Auf Wiedersehen, Frau S.« »Auf Wiedersehen, Herr Z.«
Man erzählte mir später, Herr Z. wäre fast dreißig Jahre für den Betrieb tätig gewesen und hatte sich »hochgearbeitet«. Zu jener Zeit wurde einem vor der Prokura die Handlungsvollmacht erteilt, und dies erst nach mindestens 10 Jahren Dienst. Die Prokura hatte man ihm erst im letzten Drittel seiner Tätigkeit erteilt und das war eine sehr große Ehre gewesen. Nun, ich möchte auf keinen Fall den Wert jahrelanger Loyalität mindern, Ehre, wem Ehre gebührt.
Ich selbst hatte das mit der Prokura so verstanden, dass ich die brauche, um die an dieser Position notwendigen Unterschriften leisten zu können. Es ging um meine Funktion, um Entscheidungen, die zu treffen waren, und Dokumente, die ich zu unterzeichnen hatte. Mir war klar, dass mein Arbeitgeber mit damit großes Vertrauen entgegen brachte – aber Ehre?
Ich erkannte jedoch, dass die Firma im Umbruch war, alte Strukturen wollten durchbrochen sein und neue Wege entdeckt werden. Ich war Teil dieser Veränderungen und begriff, dass ich nicht zuletzt deshalb mit ins Boot genommen wurde. Es sollten noch viele Herausforderungen auf mich zukommen und ich hatte mir geschworen, sie allesamt so anzugehen, wie ich es mit Herrn Z. gemacht hatte: Freundliche Offenheit, ehrliches Interesse und vor allem: Mich selber bleiben. Ich wollte mich nicht verbiegen, hatte keine Lust, mich von Drohungen aus dem Konzept bringen zu lassen.
Wie sich gezeigt hat, war das ein guter Entschluss und ich muss Herrn Z. dankbar sein, dass er mir dabei »geholfen« hat.
Erinnerungen
Erinnerungen –
nichts als
gestrandetes Treibgut
geliehener Zeit
heimatlose,
durch Flüchtigkeit
verwirkte Gefühle
abgewetzte,
in Bruchstücke
zerfallene Bilder
Nur dieser eine Drink
Lass uns
nur diesen einen Blick an
nur diesem einen Abend mit
nur diesem einen Drink und
nur diesem einen Tanz zu
nur diesem einen Stück
The Ruby an the Pearl
Branford Marsalis
Impuls „Erinnerungsstücke“ zum frapalymo von @fraupaulchen
Der Schnurrbart auf Nietzsches Bett
Das Engadin lag in Neuschnee gebettet und schlief unter funkelndem Sternenhimmel. Stille hatte sich über die Täler ausgebreitet, unbemerkt verstrich die blaue Morgenstunde und begrüßte mutterseelenallein das farbenspendende Tageslicht. Nietzsches Schnurrbart, in weißen Gips gegossen, lag wie eine riesige Bettdecke auf dessen ehemaligem Schlaflager in Sils Maria.
Man kann es mir also nicht verübeln, dass ich diesen bleiernen Frühmorgen verschlief. Nun, der nächste Bus hatte auch gereicht, um rechtzeitig im Nietzsche-Haus in Sils Maria anzukommen. Die kleine Tour durch den Wirkungsort des Philosophen war jedoch auf später verschoben. Ich möchte erwähnen, dass ich mich zuvor nie mit Nietzsche auseinandergesetzt habe und dieser Bericht keinen Anspruch auf wissenschaftlichen Wert, Richtigkeit oder Vollständigkeit erhebt.
Dr. Peter André Bloch begrüßte die Besucher herzlich und man sah ihm die Freude über das Interesse an der Führung an. Bloch ist Germanist und wohnt im »Unterland«, wie die Engadiner sagen. Schon sein eigenes Leben und Wirken wären einen Blogbeitrag wert. Er hat sich sehr um die Kultur verdient gemacht und seine „Werkstatt-Gespräche“ sind ein Begriff. Er hat diese Form von Auseinandersetzung mit Literatur und Philosophie schon als Freund von Dürrenmatt und später für seine Studenten umgesetzt. Noch heute kann man im Nietzsche-Haus Zimmer mieten und eine ähnliche Form davon praktizieren. Bloch setzt sich seit vielen Jahren für die Stiftung Nietzsche-Haus ein, und das mit ungebrochenem Elan. Er feiert heuer den 79. Geburtstag.
Aber jetzt bin ich abgeschweift.
Bloch ist fasziniert von Nietzsche und referierte leidenschaftlich über dessen Leben und Werke. Immer wieder baute er Textpassagen sowie Kompositionen und Lieder ab CD in seine Erzählungen ein. Die etwa 20 Besucher saßen recht eng beieinander in der kleinen Stube des alten Hauses, es war eine „heimelige“, entspannte und fast familiäre Atmosphäre. Schon als Kind vermochten mich Geschichtenerzähler in andere Welten zu versetzen, Bloch gelang dies mit seiner lebhaften Art ebenfalls spielend.
Ich lauschte der zauberhaften Musik, die Nietzsche bereits als Junge komponiert hatte und einigen Liedern und Texten, die er als Jugendlicher schrieb. Ich erfuhr über seine Familie, davon, dass er schon sehr jung in die Fußstapfen des viel zu früh verstorbenen Vaters trat und dass Frauen in seiner Jugend wohl die Hauptrollen spielten. Beeindruckend, dass er im Alter von (wenn ich mich recht erinnere) 24 nach Basel kam, um dort einen Lehrauftrag anzunehmen.
Nietzsche verbrachte in Sils Maria sieben Sommer. Er mochte das Klima und die Stille. Zum ersten Mal in St. Moritz angekommen, wollte er offenbar postwendend umkehren, weil es nach seinem Geschmack zu viele Menschen hatte. Am Bahnhof waren etwa zehn Personen ausgestiegen, man stelle sich die heutigen Besucherzahlen vor!
Natürlich liebte er die einzigartige Natur und unternahm lange Wanderungen, alles hinlänglich bekannt. Die Augen damals bereits empfindlich getrübt, notierte er seine Eindrücke unterwegs schier blindlings in Notizbücher. Diese schickte er nach Venedig, wo sie Heinrich Köselitz ins Reine schrieb und wieder ins Engadin zurück sandte.
Die bescheidene Kammer im Haus hielt Nietzsche stets abgedunkelt. Er saß dort an seinem Tisch, auf dessen abgenutztem Blatt ein tannengrünes Wolltuch lag. In sich gekehrt und den Gedanken zugewandt, konnte er in Ruhe über Moral, Macht und Verantwortung nachdenken und schreiben.
Heute stehen in der Kammer wieder die Original-Möbel, die der umtriebige Peter Bloch (nebst vielen anderen Dingen wie Originalschriften und Briefe etc.) in den letzten 45 Jahren beschaffen konnte.
Nach rund 1 1/2 Stunden (die Zeit verging im Flug) gab es noch eine Führung durch das Haus. Das muss man sich ansehen! Man trifft auf viele „alte Bekannte“, große Namen und große Geschichten, die ich unkommentiert nicht aufzählen möchte. Unzählige Dokumente erzählen aus jener Zeit und es gibt eine prächtige Bibliothek, die man für Studien nutzen darf. Ein paar „Bewohner“ arbeiteten konzentriert an diversen Themen. Ich kann mir gut vorstellen, dass Nietzsche Freude an der Lebendigkeit seiner Gedanken hier empfinden könnte. Oder auch nicht, war er doch gleichwohl ein resoluter Eigenbrötler.
Unerwartet begegnete ich Anne Frank und ihren Tagebüchern. Als Teenager hatte ich sie gelesen und als beeindruckende Art und Weise von Geschichtsunterricht aufgenommen. Das ging mir nah und mir wurde damals bewusst, was die Generation vor mir im Krieg durchlitten hatte.
Anne Frank hatte eine Tante im Engadin. Die Ausreise dort hin war ihr allerdings verwehrt, aus bekannten Gründen. In den Tagebüchern schrieb die junge Frau von den Sommerferien, die sie im Engadin verbrachte. Sie sehnte sich danach, „wenn das alles hier vorbei ist“, ins Engadin zu reisen. In St. Moritz wollte sie Lippenstift und Seidenstrümpfe kaufen und eine berühmte Schauspielerin werden. Unbedingt wollte sie lernen, Schweizerdeutsch zu sprechen, um eine Rolle in einem Schweizer Heimatfilm zu bekommen. Leider ein unerfüllter Lebenstraum, ein Entwurf, der sich nicht ins Reine geschrieben hat. Ich war sehr berührt und auch jetzt, wo ich darüber schreibe, spüre ich diesen Kloß im Hals.
Am Schluss der Führung habe ich mir in der Bibliothek einige dünne Bände gekauft (keine Wälzer, die ich dann doch nicht lesen würde). Eine „Philosophische Einführung“ – weil man mir mal sagte, Nietzsche sei immer ein paar Gedanken wert. Einen Gedichtband, eine kleine Auswahl mit den bekanntesten Aphorismen zum Thema Mensch und schließlich „Nietzsche über die Frauen“ (war ja klar, oder?).
Ich habe für mich mitgenommen, dass der Mensch ein Entwurf ist. Einer, der seine eigene Sprache finden soll und sich selbst verwirklichen. „Werde, wer du bist“. Ich stelle mir das ein bisschen wie ein offenes Buch mit weißen Seiten vor. Und wer möchte nicht auch gern seine eigene Sprache finden?
Ach, jetzt hätte ich fast das Wichtigste vergessen – das mit dem Schnurrbart auf Nietzsches Bett. Das kam nämlich so: Vor ein paar Jahren berichtete eine aufgeregte Besucherin Herrn Bloch, die Nietzsche-Kammer sei von innen abgeschlossen und man höre die Bettfedern ächzen. Belustigt entgegnete Bloch, da könne man wohl nichts machen, die »Übeltäter« müssten ja irgendwann das Schlafgemach wieder verlassen. Das taten sie nach unverbriefter Zeit. Es kam an den Tag, dass es sich um ein Flitterwochen-Paar aus Italien handelte. Die Frischvermählten erhofften, der Welt dereinst ein kluges Kind zu schenken, und setzten dabei voll auf Nietzsches Geist. Wer würde diesem nicht zutrauen, dass er das hinkriegt, war Nietzsche doch ohne Fehler – zumindest nach Blochs voreingenommener Meinung. Wie auch immer, man erachtete es anschließend als angebracht, das Bett des Philosophen mit dessen in Gips gegossenen Schnurrbart zu belegen.
Und so wären in dem alten Haus in Sils Maria noch viele Geschichten zu entdecken. Ich war nach diesen zwei Stunden sehr berührt, aufgewühlt und begeistert. Als ich das Gebäude verließ, war es ein bisschen, als ob ich wieder in eine andere Welt eintreten würde.
Warum Lena Gott nicht mochte
Die kleine Lena schlich – im Pyjama und mit ihrem Teddy in der Hand – mucksmäuschenstill aus dem Schlafzimmer. Sie musste leise sein, um niemanden aufzuwecken. Trotz Angst vor der knarrenden Stiege am Ende des Estrichs huschte sie in den unteren Stock. Sie öffnete die dick mit Farbschichten überstrichene Wohnungstür und tappte auf Zehenspitzen blindlings durch Korridor und Stube neben Großvaters Bett. »Opa, ich kann nicht einschlafen.«
Eigentlich war es Opas und Omas Bett, aber Oma schlief nicht mehr da, sie war vor einiger Zeit in den Himmel umgezogen. Zur Sicherheit, falls sie im Traum mal zu Besuch kommen wollte, ließ Opa die Bettseite neben ihm stets angezogen und bettete Laken und Decke jeden Morgen und Abend genauso, wie er es auf seiner Seite auch tat. Und manchmal, wenn Lena nicht einschlafen konnte, durfte sie sich auf Omas Seite legen.
»Dann ist ja gut, dass du zu mir kommst, Lenchen. Sehr tapfer von dir, so alleine. Komm, schlüpf unter Omas Decke.« Opas gütige Augen blickten von der Bücherseite auf, die er gerade las.
Das ließ sich Lena nicht zweimal sagen. Zusammen mit ihrem Teddy kroch sie auf Omas Bettseite und wandte sich Opa zu. »Zeigst du sie mir nochmal, Opa?« »Ja, natürlich, Lenchen,« meinte Großvater und reckte sich nach dem in Silber gerahmten Foto auf seinem Nachttisch. »Schau nur, wie schön deine Oma war, und die Liebste dazu.« Lena konnte dieses Bild immer wieder bestaunen, jedes Mal entdeckte sie etwas Neues und noch Schöneres an ihrer Oma. »Singst du mir ihr Lied, Opa? Du weißt schon, das zur Nacht.« Großvater stellte das Bild sorgfältig auf die weiße Häkeldecke zurück, dann deckte er Lena ebenso sorgfältig zu und begann leise zu singen:
Guten Abend, gut`Nacht,
mit Rosen bedacht,
mit Näglein besteckt,
schlupf unter die Deck:
Morgen früh, wenn Gott will,
wirst du wieder geweckt.
»Opa?«
»Ja, Lenchen?«
»Ich mag Gott nicht.«
»Aber Lenchen, weshalb denn nicht?«
»Weil er Oma nicht mehr geweckt hat.«
»Ach, Lenchen, das verstehe ich. Da mochte ich ihn auch eine ganze Weile lang nicht mehr.«
»Schlaf gut, Opa, ich hab dich sehr lieb.«
»Schlaf schön, Lenchen, ich hab dich auch sehr lieb,« schmunzelte Großvater und sang leise weiter:
Guten Abend, gut` Nacht,
von Englein bewacht,
die zeigen im Traum
dir Christkindleins Baum.
Schlaf nun selig und süss,
schau im Traum `s Paradies.
Manchmal
Manchmal
tränke ich das Meer
mit meinem Salz
dann schöpfe ich
zwischen den Gezeiten
meine Kraft
Manchmal
gehe ich den Weg
zum See
dann schwimme ich
zwischen den Ufern
meiner Ruhe
Manchmal
flattern meine Worte
aus den Fingerspitzen
dann lege ich einen Gedanken
zwischen die leeren Seiten
meiner Erinnerungen
Am Rande irgendeiner Innenstadt
1963 – 1986
Jahreszahlen,
in Stein gemeißelt,
getrennt
durch einen Binde-
strich von dreiundzwanzig
Jahren Dauer.
Die Zeit dazwischen:
Dein Leben
Ich sitze auf einer Bank am Rande irgendeiner Innenstadt und nippe am Leben. Nicht, dass es zu heiss wäre, wie frisch aufgegossener Tee, nein, es scheint mir nur zu kostbar, um es gierig zu verschlingen. Der Becher ist gut gefüllt, auch wenn Du einen kräftigen Schluck davon getrunken hast. Ich ging sparsam um mit der Leere, die Du hinterliessest, teilen musste ich sie mit niemandem.
Die Zeit stand ohnehin still, weisst Du. Jedes noch so sanfte Berühren dieser Stille liess die Fragen glühen und verwischte die Antworten, längst bevor sie jemand niederschreiben konnte. Lautlosigkeit füllte die Glasglocke. Verblasste Antwortbuchstaben stillten die Zeit.
Das Leben ist ein Salamander. Verliert es einen Körperteil, wächst ein Neuer nach. Das hast Du nicht gewusst, oder? Du dachtest, da würde nichts mehr wachsen und Öde war nie Dein Land gewesen. Niemand konnte so fabelhaft wie Du vom Hier in die Fremde entführen. Deine Welt war das tiefe Horn des Dampfschiffes, das in die See stach, die auch Du selbst warst. Du warst das ansteckendste Lachen im Gesicht, kleine Grübchen, in die man sich verbergen konnte. Da spielte noch Musik. Wie schade, dass Du sie nicht hören konntest im Knall des Aufpralls auf die Mauer.
Ich kann sie sehen, die Mauer, am anderen Ende der Innenstadt. Bilder verblassen nicht, weisst Du. Das ist das Schlimme: zusehen. Man wird älter davon. Ich habe mir geschworen, heute nicht zu gehen, auf dieser Bank sitzen zu bleiben und das Leben in mich hinein rieseln zu lassen, weil ich früher oft gegangen bin, allzu oft. Und wer weiss – möglicherweise vermag der Regen doch noch, die Bilder zu verwaschen.
Kursiver Text: Aus »Der Schnee gilt mir« von Hermann Burger
Suppe mit Spatz
In der kleinen, längst veralteten Gaststube, die gut zu einem Drittel aus dem Ausschankbuffet besteht, weht über den einsamen Tischen der Geist vergangener Stammtischrunden. Obwohl seit Jahren rauchfrei, sind die weiss-grauen Wolken ausgestoßener Zigarrenluft präsent und beißender Geruch schleicht sich in die Erinnerung der spärlich eintreffenden Gäste.
Nein, die langjährige Serviertochter schlängelt sich nicht mehr durch die eng aneinander stehenden Gasthausstühle, als tanze sie mit ihnen Tango. Der Wirt erzählt von besseren Tagen, die vor der Krankheit ihr Leben bestimmt und bereichert hatten.
Was geblieben ist – unerschütterlich all die Jahre – ist die Menukarte. Ein sicherer Wert auf eingeschweißtem Papier, Tradition, an der man hier festhält. Und so stellt der Wirt den Suppenteller mit den üblichen drei Tranchen Siedfleisch und die große Suppenschüssel zum Nachschöpfen auf den kleinen, ovalen Tisch. Mein Lieblingstisch, an der Nische zum Balkonfenster. »Ohne Markknochen und ohne Senf, wie früher, oder?« »Ja, wie immer, ich danke dir.«
Die alte Dame am Nebentisch durchforstet das Wochenblatt nach Nachrichten, die sie nicht schon in der Migros vernommen hat. Etwas Ungeheuerliches, mit dem sie als Minnesängerin durch die Gasthäuser der Stadt ziehen könnte, jene Stuben, die es besser mit ihr meinen als ihr eigenes, einsames Wohnzimmer zu Hause. »Bei Alma«, erzählt sie, »haben sie den Wintergarten eingeschlagen und den ganzen Schmuck mitgenommen!« »Man ist einfach nicht mehr sicher in der Stadt« hängt der Wirt ein. »Heute gibt es bei uns schon wieder keine einzige Zeitung, hat wohl einer geklaut vor der Türe.« »Na, die Zustelldienste sind auch nicht mehr, was sie mal waren.« Ein Ping-Pong-Gaststubengespräch zwischen Wirt, Gast eins und Gast zwei entwickelt sich und führt weiter vom Zeitungsklau zum FC Aarau (der ein notabene erstklassiges Potential völlig unbenutzt verkümmern lässt) zu den neu eingeführten Gebühren der Stadt, über das wieder eröffnete Rössli (keine Ahnung, wie der mit diesen Öffnungszeiten Geld verdienen will) zur Schwierigkeit, mit dem Rauchen aufzuhören und damit wieder zur viel zu spät erkannten Lungenentzündung der langjährigen Serviertochter. Ein bei allen sehr beliebtes Stadtoriginal ist sie, die sich nicht mehr auf den dünnen Beinen halten kann, auf denen sie all die Jahre Tischtango tanzte.
»So!« Er sprach dieses »So!« aus wie eines dieser lasst-uns-nicht-Trübsal-blasen-Sos. Fast schon glaubte ich, in diesem »So!« einen jetzt-wird-alles-besser-Grundton zu hören, ein Hoffnungsschimmer-So. Ich schließe mich der Aufbruchstimmung an, lobe das – wie immer – ausgezeichnete Pot-au-feu (was für ein gewagter neuer Ausdruck für Suppe mit Spatz!) und frage nach, ob es denn noch diese wundervollen Caramelchöpfli gäbe? »Ja, gerne.«
Ein ganz gewöhnliches, sich über die Jahre hinweg gerettetes »Ja gerne« legt sich über die Gedankenwolken der Gaststube und gesellt sich zu dem Seufzer, der das »So!« aus dem Fenster gefegt hatte.