Ob wohl

Ob sich manche Menschen
auch heute noch
in gütige Augen
und aufmerksame Worte verlieben?

Ob wohl noch immer
wärmende Hände
und breite Schultern
Geborgenheit und Sicherheit bieten?

Ob auch in diesen Tagen
ein einziges Lied
noch immer
die Wende im Leben eines Menschen bedeuten kann?

Obwohl,
was frag ich
ausgerechnet dich,
der du mir Lied und Schulter bist.

Sissi und Tarzan

Als Johnny Weissmüller 1932 mit nichts als einem Lederfetzen um die Lende aus einer Baumhöhle kroch, seinen sonnengebräunten Luxuskörper reckte und aus der unbehaarten Brust den Tarzanschrei zum Leben erweckte, da war es um eine ganze Generation junger Frauen geschehen. Mit offenen Augen und Mündern klebten sie in den Kinosesseln und sahen, wie ein richtiger Mann aussieht. Und als Jane, schreiend vor dem furchteinflößenden Anblick eines sich ihr nähernden Affen, sich an Tarzans nackte Brust warf und dort Schutz fand, da wussten all diese Frauen in den Kinos: Das will ich auch.

Dreiundzwanzig Jahre später steht für alle Tarzans dieser Welt kein Stein mehr auf dem anderen. Die Welt gehört einer Frau, die nicht nur schön und hinreißend ist, sondern auch noch selbstbewusst und mutig. Diese Frau sucht keine starke Schulter, nein ihr ist nach jemandem, der ihr eine eigene Meinung zugesteht. Sie lehnt ihren Kopf an eine schmächtige Brust, deren einzige Macht die goldenen Orden sind, die an ihr prangen. Die Herzen der Kinozuschauer gehören Sissi und ihrem Kaiser Franzl.

In diesen Jahren hat Sissi einen Samen in die Herzen so mancher Frau gepflanzt. Selbst aus der Angestellten des Quartierladens wurde eine Sissi, als sie beim Einfüllen von Vorratsdosen in die Verkaufsregale an ihre wahre Leidenschaft denken musste. Ihre Freude war die Sprache der Blumen, aus denen sie die schönsten Brautsträuße in der Gegend binden wollte, die feierlichsten Tisch-dekorationen und die würdevollsten Grabgestecke. Es war eine Sprache ohne große Worte, leise gesprochen und für alle Menschen gleichermaßen verständlich. Diese Sprache war farbig und zart und kräftig zugleich, in nichts zu vergleichen mit den aufdringlichen, besitzergreifenden Worten der Männer, die bei ihrem Vater um ihre Hand anhielten. Schon fast hatte sie ihren Traum aufgegeben, doch seit Sissi glaubte sie wieder fest daran, dass sie ihren eigenen Franzl finden würde. Ein Franzl, der sich bei ihren Eltern durchsetzen würde, die ihr eine Ausbildung verweigerten.

***

Man hatte sie gewarnt, die Angestellte des Quartierladens. Der Holzbauer im Dorf habe sich einen Gastarbeiter geholt, einen kräftigen. Man hatte ja schon die ersten Erfahrungen mit diesen fremden Arbeitern gemacht, die anstatt zu arbeiten den einheimischen Frauen nachpfiffen. Trotz mangelnder Kenntnis der Landessprache machten die Fremden ohne Umschweife deutlich, was sie von den Frauen erwarteten. Vielleicht aber war die wahre Angst der Warnenden jene vor den entblößten, braungebrannten Brustkörben, die sich ungeniert den Baugerüsten entlang schwangen und in den einheimischen Frauen den Wunsch nach Tarzan wecken könnten.

Die mutige Angestellte ließ sich weder von den Warnungen noch von den nackten Oberkörpern beeindrucken. Der Gastarbeiter kam fast jeden Tag in den Laden. Er kaufte Zigaretten, Zündhölzer und manchmal einen Apfel. Und obwohl er niemals mehr als diese drei Dinge kaufte, streifte er durch den ganzen Laden und sah sich über die Regale hin um, als suchte er etwas.

Die Angestellte Sissi tippte dem Fremden auf die breite Schulter und sagte zu ihm: »Bitte nur anfassen, was Sie kaufen!« Der Gastarbeiter drehte sich um, roch noch einmal an dem großen Schnitz Wassermelone in seiner Hand, und murmelte: »Riechen wie Heimat.«

Er hatte keine großen Worte gebraucht, um der Angestellten in einer ihm fremden Sprache sein Gefühl von Heimweh zu vermitteln. Als er den Laden verließ, drehte er wie jedes Mal seinen Kopf und sah sich noch einmal um. Er sah, wie die hinreißende Sissi jenen Schnitz Wassermelone, die er in Händen gehalten hatte, in einen Einkaufskorb legte. Zwei Augenpaare trafen sich.

Gut möglich, dass sich die beiden Augenpaare nach Ladenschluss noch einmal sahen. Vielleicht hatte er mit einer Blume in der Hand auf der Parkbank unter der Linde gegenüber dem Laden gesessen. Sie könnte den Tarzan in ihm geweckt haben, als sie ihm vom strengen Vater und dem unerfüllten Berufswunsch erzählte. Und er hatte eventuell unbeholfen und in wenigen Worten erzählt, wie er sich zu Hause gegen seinen eigenen Vater durchgesetzt und darauf seine Heimat verlassen hatte, als wäre er ein Franzl. Womöglich tauschten sie die Blume in seiner Hand gegen den Melonenschnitz in ihrer Tasche. Und vermutlich hat der Gastarbeiter daraufhin ein Messer aus der Hose gezogen, es aufgeklappt und den Schnitz in zwei Hälften geschnitten, denn von nun an wollten sie ein Leben lang alles miteinander teilen.

***

Es gibt ihn noch, den Lindenbaum. Die Bank davor ist nicht mehr die gleiche, und das gilt auch für Sissi, die darauf Platz genommen hat. Und für den Quartierladen gegenüber, der jetzt zu einer internationalen Detailhandelskette gehört.

Es ist Dezember und Sissis Blick ist so leer wie das Geäst der Linde, ihre Augen so trüb wie der Nebel im dreieckigen Schein der Straßenlaterne. Sissi sitzt da, in eine ihr viel zu groß gewordene Jacke gehüllt, das rechte Bein über das linke geschlagen. Sie spricht mit erhobenem Zeigefinger von leeren Versprechungen und von Schuld, und davon, dass man auf entblößter Brust keine Orden anbringen kann. Während Sissi vor sich hin redet, schließt die Angestellte der internationalen Detailhandelskette den Hintereingang. Sie sucht den Autoschlüssel in der Tasche, die an ihrer müden Schulter hängt, und hört durch die Abendstille hindurch Sissis Stimme.

»Wer sind Sie, ich kenne Sie nicht! Wollen Sie sich setzen?« »Ja, ich setze mich gerne einen Moment, ist es nicht zu kalt?« »Nein, wir treffen uns immer hier, wissen Sie. Wir treffen uns hier und teilen unser Pausenbrot. Haben Sie ein Pausenbrot?« »Nein, dafür ist es schon reichlich spät. Komm, ich bringe Dich nach Hause.« Die Angestellte spricht mit milder Stimme zu Sissi und reicht ihr die Hand. Sissis Lippen schüren sich zu einem trotzigen, schmalen Strich. Doch bevor sie etwas sagen kann, unterbricht das Mobiltelefon der Angestellten die Stille und Sissis Gedanken. »Hallo? Ja, sie ist hier, ich bringe sie gleich zurück. Vielen Dank für den Anruf.«

»Siehst Du Mama, im Altersheim suchen sie Dich schon. Heute ist St. Nikolaus und den willst Du doch nicht verpassen, oder?« »Ach ja, das sagten Sie schon. Ich muss jetzt zurück nach Hause, wissen Sie.« »Ich muss in die gleiche Richtung, gehen wir die paar Schritte doch gemeinsam.«

Es schien, als hätte sich die Gnade des Vergessens über beide Frauen gelegt, als sie zusammen das Altersheim betraten. Der Nikolaus schenkte ihnen Mandarinen und einen Lebkuchen. Sie baten um ein Messer, teilten den Kuchen und lächelten einander zu.

500 Jahre auf 200 Metern

Wer im Lissabonner Stadtteil Belém entlang der Hafenpromenade spaziert, trifft Aufbruchstimmung an. Man ehrt hier die berühmten portugiesischen Entdecker, allen voran Heinrich der Seefahrer, zu dessen 500. Todestag im Jahre 1960 das »Denkmal der Entdeckungen« eröffnet wurde. Im 15. und 16. Jahrhundert haben die von ihm initiierten Entdeckungsreisen das Land groß gemacht und stellten den Beginn der europäischen Expansion dar. Portugal wurde zum Mittelpunkt des europäischen Handels von Gewürzen und sonstigen Reichtümern aus den neuen Welten.

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Am Fuße des Denkmals liegt ein großflächiges Windrosen-Mosaik, in dessen Zentrum eine Weltkarte die portugiesischen Entdeckungen aufzeigt. Das Mosaik, ein Geschenk Südafrikas an Portugal, weckt Reiselust. Man kann sich lebhaft ausmalen, wie die mutigen Seefahrer hier den Hafen ihrer Heimat verliessen, um nach unbekannten Territorien und Schätzen zu suchen. So passierte Bartolomeu Diaz auf einer streng geheimen Entdeckungsfahrt unter portugiesischer Flagge 1488 als erster Europäer das Kap der guten Hoffnung. Im Jahre 1500 betrat Pedro Alvares Cabral in der Nähe des heutigen Porto Seguro zum ersten Mal brasilianischen Boden und gilt seither gemeinhin als Entdecker der späteren Kolonie Portugals.

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Begrüßt wurden die nach Hause kehrenden Seefahrer der damals weltgrößten Seemacht an der Hafeneinfahrt Lissabons durch den »Torre de Bélem«. 1521 ließ König Manuel I. den 35 Meter hohen Leuchtturm erbauen, den man heute über einen Steg bequem zu Fuß erreichen und besichtigen kann.

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Unmittelbar neben dem »Torre de Bélem« befindet sich ein weiteres Monument. Von einer beeindruckenden Steinmauer umrahmt steht ein Dreieck, einer Pyramide ähnlich, in einem Wasserbecken. In der Mitte des imposanten Mahnmals brennt ein Feuer. Links und rechts der Skulptur ist je ein Wächterhäuschen auszumachen. Im Schatten der Steinmauer sitzt ein alter Mann auf der mittleren Stufe eines Dreitritts und meißelt Zeichen in die Steinplatten. Rasch wird mir klar, dass es sich bei den Zeilen um Namen handeln muss. Namen, deren Träger nicht vom »Torre de Belém« begrüsst wurden, weil sie von ihrer Reise nicht zurückgekehrt sind. Mit voller Wucht nimmt mich die buchstäbliche Todesstille dieses Ortes ein.

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Ich kann nicht anders. Ich muss diesen Ort betreten. Ich muss die Namen lesen, die der alte Mann in die Steinplatten meißelt. Ich muss die Kerben der einzelnen Buchstaben mit meinen Fingern berühren. Ich spüre mich durch das A von Antonio Pereira Ramos, Soldat. Wie eine Blinde ertaste ich die Furchen, die der Name Manuel Serafim Lavado im Stein hinterlässt. Aus den Ritzen fallen Bilder von Müttern, die ihre Söhne unter Tränen in den Krieg ziehen lassen. Bilder von Soldaten, die ihre Frauen zum Abschied küssen und etwas von Kampf für das Vaterland in ihre Ohren flüstern. Wüste Szenen von verschwitzten Männern in ihren Uniformen, wie sie töten, wie sie sterben. Die Bilder fließen aus den in die Steinplatten gehauenen Namen wie ein Wasserfall und ertrinken schließlich im Wasser, in dem das Mahnmal steht.

An einzelnen Namen klebt eine Rose und ich stelle mir vor, wie die Witwen und Geschwister dieser gefallenen Soldaten die Blumen 50 Jahre nach dem Krieg hierher gebracht haben. Vielleicht waren es auch die Kinder und Enkel – wie viele davon wohl ihren Vater niemals gesehen haben?

Während 1960 das Salazar-Regime mit dem beeindruckenden »Denkmal der Entdeckungen« die großen Namen wie Heinrich der Seefahrer, Vasco da Gama und Ferdinand Magellan ehrte, schürte hunderte Seemeilen entfernt die Unabhängigkeit Belgisch-Kongos einen Aufstand in der portugiesischen Kolonie Angola. Nur ein Jahr darauf entwickelte sich der vorerst friedliche Protest in ein Massaker, das Portugal schließlich militärisch niederschlug. Es folgten weitere Krisen in Guinea und Mosambik. Die Kolonialkriege in den afrikanischen Gebieten Portugals kosteten rund 10’000 portugiesischen Soldaten das Leben.

Mit dem Mahnmal und militärischen Ehren gedenkt man hier seit dem Jahr 2000 den gefallenen portugiesischen Überseekämpfern. Exakt jede Stunde erfolgt die Wachablösung der beiden bewaffneten Soldaten in den Wächterhäuschen. Ziehen die Wachsoldaten an der Landesflagge vorbei, wird diese militärisch gegrüßt. Vielen Familien ist das Kriegerdenkmal bestimmt ein Trost, ein Ort, der ihren in der Fremde verlorenen Lieben eine Erinnerung setzt, vielleicht sogar versucht, ihrem Tod eine Art Sinn zu geben.

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Der Ort mag für viele Menschen unterschiedliche Bedeutungen haben, ich kann jedoch nur an eines denken: Nichts wird diese Namen jemals wieder zu Leben erwecken. Unwiederbringlich haben die Lebens- und Liebesgeschichten dieser Menschen in der Ferne ein jähes Ende gefunden. Und bei allem Respekt fällt mir auf, dass hier ausschließlich den landeseigenen Soldaten gedenkt wird.

Ich weiss nicht, ob die drei Monumente mit Absicht in dieser Reihenfolge auf so kleinem Raum erbaut wurden, vielleicht ist es Zufall. Noch nie jedoch habe ich auf geschätzten 200 Metern Promenade eine so geballte Ladung Geschichte erlebt, die sich immerhin über mehr als 500 Jahre erstreckt.

Ausgelost

Auf Dich
hätte ich gewartet

Wir haben es
ausgelost – Du hast
den Kürzeren gezogen

Mir blieb
das große Los –
als Gewinn eine Zeit
die Wunden nicht heilt

Frühmorgens
wenn alles neu beginnt
wiegt es am schwersten
ohne Dich

Immer wieder von neuem
Tritt zu fassen
bis die Leere sich füllt

Auf Dich
hätte ich gewartet
nicht jedoch
auf das Leben

Geborene Seconda

Meine Mutter ist Schweizerin. Ihre Mutter auch, genauso wie deren Mutter, Grossmutter, Ur- und Ururgrossmutter es auch waren. All diese Frauen sind in der Schweiz geboren, Kinder von Schweizer Müttern, in der Schweiz aufgewachsen und haben – soweit es zu ihrer Zeit möglich war – hier in der Schweiz die Schule besucht. Sie sind meine Ahnen, meine Herkunft, ich stamme aus ihrer Linie ab. Meine Urururgrossmutter wuchs ein paar Dörfer weiter auf, als ich es tat. Die Namen all dieser Frauen waren typisch schweizerisch, ihr Aussehen und ihre Sprache waren es auch.

Nun, falls bei Ihnen während des Lesens dieser Zeilen der Eindruck entstanden sein sollte, dass es selbstverständlich sei, dass wir es bei den genannten Frauen (mich eingeschlossen) mit Schweizerinnen zu tun haben, dann täuschen Sie sich.

Die Schweizer Staatsbürgerschaft haben diese Frauen nämlich nicht etwa ihren Müttern oder gar ihren Geburtsorten oder den von ihnen besuchten Schulen zu verdanken. Nein, das kleine rote Büchlein mit weissem Kreuz lag nur deshalb in ihrer Schublade, weil ihre Väter Schweizer waren.

Und darin unterscheiden sie sich wesentlich von mir, oder wie ich es seit jeher empfinde, ich mich von ihnen. Zwar bin auch ich von einer Schweizer Mutter in der Schweiz geboren worden, habe hier die Schulen besucht und spreche wie eine echte Schweizerin. Aber ich habe aus Sicht unseres Staatsrechts ein Manko, das es mir nicht erlaubte, als Schweizerin geboren zu werden: Mein Vater ist Ausländer.

Er ist einer jener Italiener, die in den 50er Jahren in die Schweiz gekommen sind, um eine Arbeit zu finden. Sein Leben kam etwas anders als geplant heraus und er hat sich in der Schweiz niedergelassen, mit einer Schweizerin eine Familie gegründet und zeitlebens in der Schweiz gearbeitet. Nachdem er den grössten Teil seines Lebens in der Schweiz verbrachte, ist er auch dort gestorben und beerdigt worden. In diesem Fall, sagte das Recht, sei es nicht recht, dass man als Schweizerin geboren wird, man kam als Ausländerin zur Welt. Im Volksmund nennt man das eine Seconda.

Ich weiss auch nicht, warum ich das hier schreibe, liebe Leser. Doch, ich glaube, es hat etwas mit der Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative der SVP zu tun. Es lag mir einfach daran, Ihnen das noch vor der Abstimmung mitzuteilen, und ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Karriere, Frau?

Das Stellenangebot kam zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Ich hatte soeben die höhere Fachausbildung zur dipl. Buchhalterin bestanden und meinen Job gekündigt, um drei Monate mit dem Motorrad gen Westen zu touren. Meine Güte, heute, mit 47 Jahren, kommt mir sofort der Gedanke: Wie jetzt, den Job gekündigt, ohne einen neuen zu haben?! Doch damals, mit 26, gut ausgebildet und in einem Land lebend, in dem das Wort Arbeitslosigkeit nur noch ein Schreckgespenst für Nachkriegsgenerationen war, konnte ich das getrost wagen.

Nun, ganz so war es auch nicht. Da ich zu jener Zeit als Single lebte, hatte ich meine Bewerbungsunterlagen einem in der Branche bekannten Stellenvermittler zukommen lassen. Die Abmachung war, dass er während dieser drei Monate eine geeignete Stelle für mich sucht, damit ich in nützlicher Frist nach der Rückkehr wieder arbeiten konnte. Ich war voll motiviert und hatte einen gut gepackten Rucksack an Wissen und Erfahrung für einen neuen, anspruchsvolleren Job.

Erstens kommt es anders, und zweitens geht es schnell. Noch bevor ich am Packen der Reisetasche war, kam der Anruf: »Ich habe einen exzellenten Job für Sie! Genau das, was Sie wollen: Finanzbuchhaltung in einem Produktionsbetrieb, Monatsabschlüsse, Konzernreporting, Mehrwertsteuer, Liquiditätsplanung, Budget etc. Spannender geht’s nicht!« »Und wo ist der Haken?« »Sie müssen in zwei Wochen anfangen.« »Dann ist es unmöglich, in zehn Tagen bin ich weg.« »Das Vorstellungsgespräch ist übermorgen.«

So ein Mist! Es WAR die Stelle, die ich suchte. Obendrein kam auch noch der damalige Vorgesetzte, zu dem ich ein sehr respekt- und vertrauensvolles Verhältnis hatte, und sagte: »Sandra, wenn Du den Job nicht annimmst, vergibst Du Dir was.« »Woher willst Du das denn wissen?« Ich hatte ihn zwar als Referenz angegeben, ihm von dem Angebot aber nichts Genaueres erzählt. »Na, man will sich doch ein Bild davon machen, wo man seine Leute hin gibt, oder? Ich hatte soeben ein langes Gespräch mit Deinem zukünftigen Chef und wir sind uns einig, dass Du die richtige Person für diese Aufgabe bist.« Punkt.

Die Sache war also klar, das Angebot war gut und ich war entscheidungsfreudig. So ein unbezahlter Urlaub würde sich bestimmt irgendwann nachholen lassen. (Tatsächlich sollte das dann erst 25 Jahre später der Fall sein.)

Ich hatte mich schon nach kurzer Zeit recht gut eingearbeitet, der neue Chef war toll, forderte viel, auf eine fördernde Art und Weise. Was ich nicht wusste, konnte ich nachfragen, er erklärte mir die Zusammenhänge oder gab mir einen Tipp, wie und wo ich Antworten auf meine Fragen finden würde. Ich ließ mir die Fabrik zeigen, die Produktionsprozesse, jede einzelne Maschine. Ich sprach mit den Menschen, die ihren Arbeitstag in der Fabrikhalle verbrachten und lernte, ihnen und den Produkten, die sie herstellten, eine hohe Wertschätzung entgegen zu bringen. Haben Sie zum Beispiel gewusst, dass jeder einzelne Henkel an einer Porzellantasse von Hand dort angebracht wird?

Diese Neugier und der Wissensdurst, mit dem ich auf die neuen Kolleginnen und Kollegen zuging, war wohl für einige überraschend. Die Fabrikationshalle war durch eine Straße von den Bürogebäuden getrennt und die räumliche Trennung fand auch in den Köpfen der Menschen statt. Einige dachten wohl, ich sei ein junger, übermotivierter Schnösel und andere fanden es schade um ihre Zeit, mir etwas zu erklären, das ich (als Frau) sowieso nicht verstehen würde. Die meisten Mitarbeiter waren jedoch erfreut, dass jemand »aus der Verwaltung« sich für ihre Arbeit interessierte, und gaben bereitwillig Auskunft. Es sind daraus gute Ideen entstanden, wie man das eine oder andere verbessern konnte und ich brachte die Erkenntnisse im Finanzbericht erläuternd ein.

So vergingen ein paar spannende Monate, bis mein Vorgesetzter mich um ein Gespräch bat. Er teilte mir mit, dass der Konzern einige Umstrukturierungsmaßnahmen beschlossen hätte, die auch das Finanzwesen betreffen würden. Er selber sei neu nicht mehr für die Finanzen, sondern für die Logistik zuständig und er habe der Geschäftsleitung vorgeschlagen, mich zur Leiterin des Finanz- und Rechnungswesens zu ernennen. Er traue mir das zu und zudem sei er im Notfall bei Fragen ja noch da. Glauben Sie mir, ich habe keine Ahnung, welcher Teufel mich geritten hatte, als ich ohne zu überlegen selbstbewusst zu verstehen gab, dass ich mich durchaus für fähig hielt, die Aufgabe zu übernehmen.

Keine Sekunde hatte ich daran gedacht, dass diese Position nicht nur fachliche Anforderungen an mich stellen würde. Ich war naiv genug zu glauben, dass die Aufgaben zwar anspruchsvoller werden, alles andere jedoch einfach so weiter gehen würde. Es lag außerhalb meiner untaktischen Vorstellungskraft, dass sich das Bild der Mitarbeiter über meine Person dadurch ändern könnte, war ich doch immer noch die gleiche.

Was beschlossen war wurde kommuniziert, Frau S. wird befördert und freut sich auch noch darüber. Eine selbstbewusste junge Frau, die sich für fähig hält und mit triumphierendem Lächeln durch die Gänge marschiert, weil sie »es geschafft« hatte wie Melanie Griffith als Tess McGill in »Die Waffen der Frauen«. Ob sie einen Harrison Ford zu Hause hatte, der ihr morgens das Pausenbrot schmiert?

Zu jener Zeit nannte man das eine Karrierefrau. Diese Bezeichnung war untrennbar verbunden mit anderen Ausdrücken wie »sich hoch schlafen« (hat sie sich nicht schon von Anfang an bei allen angebiedert?) oder »Günstling« (wie hat sie es wohl geschafft, »den Alten« zu blenden?). Eine Frau im besten Alter um Kinder zu kriegen sollte sich eher einen Mann suchen, mit dem sie das Projekt Familie verwirklichen konnte. Dass sie keinen hatte, sprach ebenfalls Bände.

Die Veränderungen fanden im Kleinen statt. »Gehst Du jetzt trotzdem noch Deinen Kaffee selber holen?« »Wechselst Du Dein Büro ins Hauptgebäude?« Die Büros des Finanz- und Rechnungswesens waren in einer Holzbaracke untergebracht, einem ewigen Provisorium. Mir wurde klar, dass dies von einigen als Klasseneinteilung angesehen wurde, was überhaupt nicht stimmte. *Die mehr besseren« durften im Hauptgebäude sitzen. »Dürfen wir Dir jetzt noch Du sagen?« »Jetzt setzt Du Dich in der Kantine wohl nicht mehr an unseren Tisch.« Die Fragen hatten einen Unterton, der mich total überraschte. Die waren gar nicht scherzhaft gemeint, was ich schon bald am Kantinentisch feststellen sollte. Ging ich nicht Punkt zwölf Uhr mit, weil ich noch etwas erledigen wollte, war das plötzlich ein Zeichen, dass ich nicht mehr mit ihnen zusammen gehen mochte. Gespräche verstummten, wenn ich mich später dazu setzte.

Am meisten geprägt hat mich jedoch etwas anderes. Ich brütete gerade konzentriert über dem monatlichen Finanzbericht, als ein Poltern auf die Holzstiegen der Bürobaracke fegte. Jemand riss die Eingangstüre auf, schritt in mein Büro und baute sich dort auf. Der ältere, braun gebrannte Mann in Freizeitkleidung stemmte seine Fäuste in die Hüften und holte tief Luft: »Sie wurden zur Prokuristin befördert??!!« schnaubte er und ließ seinem Ärger mit hochrotem Kopf weiter Lauf: »Was haben Sie überhaupt für eine Ausbildung??«

Ich war total perplex. Da stand ein Mann, den ich noch nie getroffen hatte, und griff mich an. Seine Haltung und die Worte, die er ausposaunte, machten unmissverständlich klar, dass er mich für eine Fehlbesetzung hielt und signalisierten, dass ER, hätte er ein Mitspracherecht gehabt, sich nicht für mich entschieden hätte. Mir gingen in nur einer Sekunde tausend Gedanken durch den Kopf. Mir war klar, dass es sich wahrscheinlich um meinen Vorgänger handelte, der kurz vor meiner Anstellung pensioniert worden war. Ich hatte schon viel von ihm gehört und wusste, dass er die Abteilung patriarchalisch geführt hatte und ein Mensch war, der keine Fehler machte.

Ich wusste überhaupt nicht, wie ich reagieren sollte. In den umliegenden Büros war es mucksmäuschenstill geworden. Das Einzige, was mir in den Sinn kam, war: »Guten Tag, ich bin Sandra S., Sie müssen Herr Z. sein, oder?« Jetzt war es an ihm, perplex zu sein. Da saß eine Person in seinem ehemaligen Büro, an seinem ehemaligen Schreibtisch an seinem ehemaligen Computer, neben seinen ehemaligen Untertanen und hatte keine Ahnung, mit wem sie es hier zu tun hatte und stand nicht mal auf, um ihm den Respekt zu erweisen, den er verdient hatte.

»Glauben Sie im ernst, Sie könnten diesen Laden hier führen und Vorgesetzte von Mitarbeitern werden, die so lange hier arbeiten, wie Sie alt sind, Frau S.?« Ein neuer Aspekt, den ich mir nicht überlegt hatte. »Sie werden mich noch kennen lernen, Frau S. Ich bin im Stiftungsrat der Personalfürsorgestiftung, deren Bestehen man umsichtigen Führungskräften verdankt, die in der Lage waren, die Zukunft zu gestalten. Das war zu jener Zeit, als alles seine Ordnung hatte.« Meine Position brachte es mit sich, das Präsidentenamt dieser Stiftung zu übernehmen. Ich fand es jetzt doch besser, mich auch zu erheben und stellte mich vor ihn. »Das freut mich, Herr Z., ich werde nächste Woche die Einladung zur Sitzung verschicken, die bekanntlich in drei Wochen stattfinden wird.« »Auf Wiedersehen, Frau S.« »Auf Wiedersehen, Herr Z.«

Man erzählte mir später, Herr Z. wäre fast dreißig Jahre für den Betrieb tätig gewesen und hatte sich »hochgearbeitet«. Zu jener Zeit wurde einem vor der Prokura die Handlungsvollmacht erteilt, und dies erst nach mindestens 10 Jahren Dienst. Die Prokura hatte man ihm erst im letzten Drittel seiner Tätigkeit erteilt und das war eine sehr große Ehre gewesen. Nun, ich möchte auf keinen Fall den Wert jahrelanger Loyalität mindern, Ehre, wem Ehre gebührt.

Ich selbst hatte das mit der Prokura so verstanden, dass ich die brauche, um die an dieser Position notwendigen Unterschriften leisten zu können. Es ging um meine Funktion, um Entscheidungen, die zu treffen waren, und Dokumente, die ich zu unterzeichnen hatte. Mir war klar, dass mein Arbeitgeber mit damit großes Vertrauen entgegen brachte – aber Ehre?

Ich erkannte jedoch, dass die Firma im Umbruch war, alte Strukturen wollten durchbrochen sein und neue Wege entdeckt werden. Ich war Teil dieser Veränderungen und begriff, dass ich nicht zuletzt deshalb mit ins Boot genommen wurde. Es sollten noch viele Herausforderungen auf mich zukommen und ich hatte mir geschworen, sie allesamt so anzugehen, wie ich es mit Herrn Z. gemacht hatte: Freundliche Offenheit, ehrliches Interesse und vor allem: Mich selber bleiben. Ich wollte mich nicht verbiegen, hatte keine Lust, mich von Drohungen aus dem Konzept bringen zu lassen.

Wie sich gezeigt hat, war das ein guter Entschluss und ich muss Herrn Z. dankbar sein, dass er mir dabei »geholfen« hat.

In wessen Hände

In wessen Hände legst du dein Leben?

In die deines dir liebsten Menschen, dem du uneingeschränktes Vertrauen entgegen bringst, weil du weißt, dass er es niemals missbrauchen würde? In die Hände des deutschen Narkosearztes, den du bis kurz vor dem Eingriff noch nie gesehen hast? In die steril vorbereiteten Hände des ungarischen Chefarztes der Neuroradiologie, der sie konzentriert vor seiner Brust hält und darauf wartet, dass er dir einen Katheter in die Arterie einführen kann, um von deiner Leiste über die Aorta bis zu deinem Gehirn zu gelangen? Oder legst du dein Leben in die Hände des polnischen Lastwagenchauffeurs vor dir, der mit seinem behaarten Unterarm winkt, was wohl bedeutet, dass die Gegenfahrbahn frei ist und du überholen kannst? Legst du dein Leben in die Hände deines kriegserfahrenen Kommandanten, der dir Rückendeckung verspricht, während du den Feind angreifst? Oder würdest du dein Leben in die Hände eines dir unbekannten Menschen unbekannter Nationalität legen, dessen Sprache du nicht verstehst, der dir aber zu verstehen gibt, dich mit 70 anderen Menschen in einem LKW über die Grenze in den Frieden zu fahren?

Welche Rolle spielen die genannten Nationalitäten in deinen Überlegungen, ob du dein Leben in die Hände dieser Menschen legen sollst? Legst du überhaupt jemals dein Leben in die Hände jemandes – und hattest du dabei bislang das Privileg der Wahl?

Suppe mit Spatz

In der kleinen, längst veralteten Gaststube, die gut zu einem Drittel aus dem Ausschankbuffet besteht, weht über den einsamen Tischen der Geist vergangener Stammtischrunden. Obwohl seit Jahren rauchfrei, sind die weiss-grauen Wolken ausgestoßener Zigarrenluft präsent und beißender Geruch schleicht sich in die Erinnerung der spärlich eintreffenden Gäste.
Nein, die langjährige Serviertochter schlängelt sich nicht mehr durch die eng aneinander stehenden Gasthausstühle, als tanze sie mit ihnen Tango. Der Wirt erzählt von besseren Tagen, die vor der Krankheit ihr Leben bestimmt und bereichert hatten.
Was geblieben ist – unerschütterlich all die Jahre – ist die Menukarte. Ein sicherer Wert auf eingeschweißtem Papier, Tradition, an der man hier festhält. Und so stellt der Wirt den Suppenteller mit den üblichen drei Tranchen Siedfleisch und die große Suppenschüssel zum Nachschöpfen auf den kleinen, ovalen Tisch. Mein Lieblingstisch, an der Nische zum Balkonfenster. »Ohne Markknochen und ohne Senf, wie früher, oder?« »Ja, wie immer, ich danke dir.«
Die alte Dame am Nebentisch durchforstet das Wochenblatt nach Nachrichten, die sie nicht schon in der Migros vernommen hat. Etwas Ungeheuerliches, mit dem sie als Minnesängerin durch die Gasthäuser der Stadt ziehen könnte, jene Stuben, die es besser mit ihr meinen als ihr eigenes, einsames Wohnzimmer zu Hause. »Bei Alma«, erzählt sie, »haben sie den Wintergarten eingeschlagen und den ganzen Schmuck mitgenommen!« »Man ist einfach nicht mehr sicher in der Stadt« hängt der Wirt ein. »Heute gibt es bei uns schon wieder keine einzige Zeitung, hat wohl einer geklaut vor der Türe.« »Na, die Zustelldienste sind auch nicht mehr, was sie mal waren.« Ein Ping-Pong-Gaststubengespräch zwischen Wirt, Gast eins und Gast zwei entwickelt sich und führt weiter vom Zeitungsklau zum FC Aarau (der ein notabene erstklassiges Potential völlig unbenutzt verkümmern lässt) zu den neu eingeführten Gebühren der Stadt, über das wieder eröffnete Rössli (keine Ahnung, wie der mit diesen Öffnungszeiten Geld verdienen will) zur Schwierigkeit, mit dem Rauchen aufzuhören und damit wieder zur viel zu spät erkannten Lungenentzündung der langjährigen Serviertochter. Ein bei allen sehr beliebtes Stadtoriginal ist sie, die sich nicht mehr auf den dünnen Beinen halten kann, auf denen sie all die Jahre Tischtango tanzte.
»So!« Er sprach dieses »So!« aus wie eines dieser lasst-uns-nicht-Trübsal-blasen-Sos. Fast schon glaubte ich, in diesem »So!« einen jetzt-wird-alles-besser-Grundton zu hören, ein Hoffnungsschimmer-So. Ich schließe mich der Aufbruchstimmung an, lobe das – wie immer – ausgezeichnete Pot-au-feu (was für ein gewagter neuer Ausdruck für Suppe mit Spatz!) und frage nach, ob es denn noch diese wundervollen Caramelchöpfli gäbe? »Ja, gerne.«
Ein ganz gewöhnliches, sich über die Jahre hinweg gerettetes »Ja gerne« legt sich über die Gedankenwolken der Gaststube und gesellt sich zu dem Seufzer, der das »So!« aus dem Fenster gefegt hatte.

Vordereingang

Das Öffnen der alten, hölzernen Eingangstüre erforderte ein wenig Geschick. Die abgegriffene Türfalle liess das alte Schloss nur dann aufschnappen, wenn man sie schnurgerade und kräftig nach unten drückte. Ein lautes Knack kündigte den Bewohnern im ersten Stock jeden Besucher an, noch bevor dieser das Haus betreten hatte. Das Mädchen war jetzt schon etwas grösser geworden und brauchte sich nicht mehr auf die Zehenspitzen zu stellen, um die Türfalle zu erreichen. Früher hatte sie sich einfach ein wenig an den Türgriff gehangelt um zum Ziel zu kommen. Obwohl sie ihr Elternhaus unzählige Male täglich betrat überlegte sie es sich jedesmal gut, direkt durch den Vordereingang einzutreten.
Es gab da nämlich die indirekte Variante, jene, die um das Haus herum am alten Nussbaum vorbei zum Hühnerhof und den Kaninchenställen führte. Nachdem sie die Hühner beschworen hatte, zu Ostern doch bitte extra grosse Eier zu legen und den Kaninchen die unterwegs gepflückten Grashalme durch den Maschendraht gesteckt hatte, konnte sie auf dem Kiesweg nach einem besonders schönen Kieselstein suchen. In ihrer Muschel- und Kieselsteinsammlung fanden allerdings nur die schönsten Exemplare einen Platz!
Wenn sie sich dann noch an der Waschküche vorbei die vier Treppenstiegen hinauf schlich, gab es da noch eine Tür, eine mit bunten Glasscheiben, deren Kittfugen schon zerbröckelten und doch noch alles zusammenhielten. Hinter dieser zweiten Tür befand sich nicht eine steile Stiege, die jeden Schritt knarrend begleitete und in die Laube und zum Küchenfenster führte. Nein, hinter dieser zweiten Tür erwarteten sie Geschichten und Abenteuer. Verlebte, furchige Männerhände, die bunt bemalte Vogelhäuschen basteln konnten oder über ihr Haar strichen und nach den Schulwegerlebnissen fragten. Eine ruhige, liebevolle Stimme, die sich Zeit nahm, ihr eine Geschichte zu erzählen, so wie kürzlich jene von Streuner, einem herumziehenden Hund, der am Ende der Geschichte eine richtige Familie fand, bei der er bleiben durfte.
Jetzt war jedoch nicht die Zeit des Hintereingangs. Es war an der Zeit, den direkten Weg zu nehmen. Sie holte tief Luft und drückte kräftig auf die abgegriffene Türfalle am Vordereingang, streifte sich an der ausgefransten Türvorlage nicht nur ihre Schuhe ab, sondern auch gleich ihre kindliche Neugier. Sie fasste mutig den abgerundeten, hölzernen Handlauf und nahm die steile Stiege in Angriff, die ihr mit jedem Tritt nach oben knarzend etwas einbläute. Ein „Putz deine Schuhe“ beim ersten Tritt. Ein „Räum deine Schulsachen auf“ beim Zweiten. Der Dritte raunzte ein „Du kommst zu spät“ und der Vierte warf ihr vor, die Türe wieder nicht richtig verschlossen zu haben, als sie das Haus verlassen hatte. Die fünfte Stiege schnappte nach Luft, als ob sie unter dem Gewicht des Kindes zusammenbrechen würde. Der sechste Treppentritt fand, sie sei wieder mal zu vorwitzig gewesen und frech und der Siebte wünschte sich, sie würde nur ein einziges Mal einfach ohne zu murren das tun, was man ihr sagt. Am schwersten jedoch war für sie die achte Stiege. Fast wünschte sie sich, die Nummer acht würde auch etwas schreckliches zu ihr sagen, anstatt sie jedes Mal mit Verachtung zu strafen.

Die goldene Armbanduhr

Sie legte die filigrane Armbanduhr längs über ihre Handinnenfläche, so, dass der goldene Verschluss des schwarzen Armbandes auf der Kuppe ihres Zeigefingers lag. Der runde Uhrkörper schmiegte sich an den sensiblen Punkt des Handtellers, an dem die Herzlinie begann. Das andere Ende des schmalen Lederarmbandes, das sich durch das Tragen der Uhr am Handgelenk zu einem Bogen geformt hatte, lag exakt am Ende ihrer Lebenslinie. Sanft, fast zärtlich, strich sie mit der rechten Hand über das leicht gewölbte Glas, das sich als schützendes Dach über das goldfarbene Zifferblatt spannte. Als Ziffern dienten zwölf eher kantige, gegen innen spitz zugeformte Balken, die der ansonsten in feinen, runden Linien gestalteten Uhr etwas Markantes verliehen. Die wiederum äusserst filigranen Zeiger hatten ihre letzte Bewegung vor ungezählten Jahren um exakt drei Uhr fünfunddreissig und vierunddreissig Sekunden ausgeführt. Seither hatte niemand es für wichtig erachtet, der Uhr und ihrer Zeit wieder Leben einzuhauchen.

Die Uhr einer längst untergegangenen Marke hatte keinen materiellen Wert. Das Gehäuse war nur vergoldet und das spröde Lederarmband konnte seine Abnutzung nicht mehr verbergen. Und doch, für sie, in deren Hand sie nun lag, war sie von unschätzbarem Wert. Sie legte die Uhr über ihr linkes Handgelenk, als wollte sie sie anziehen. Die Grösse würde passen, das zierliche Handgelenk hatte ihre Mutter ihr vererbt. Das aus Gelbgold gefertigte Herz, angebracht an der Halterung des Armbandes, legte sich schlafend auf ihre Haut.

Ihre Mutter hatte zeitlebens nicht viel Schmuck besessen. Zwei oder drei Paar Ohrringe, eine dünne Halskette aus Gelbgold, an der ein ebenfalls goldenes Kreuz hing. Dazu kam später zur Verlobung von ihrem zukünftigen Mann die filigrane Armbanduhr und kurz darauf der schlichte, ebenso gelbgoldene Ehering, den sie bis an ihr Lebensende trug. Den Ring ihres Gatten, mit dem sie mehr als fünfzig Jahre ihres langen Lebens geteilt hatte, verschenkte sie nach dessen Tod ihrer Enkelin.

Ihre Eltern waren nun schon vor vielen Jahren verstorben und auch sie selbst war alt geworden. Dachte sie an ihre Kindheit zurück, wurde ihr heute noch schwer ums Herz. Es gab nicht viele Andenken an diese Zeit, ein paar wenige Fotos nur, alle älter als sie selbst. Die Zeit, in der die Uhr, die still auf ihrem Handgelenk lag, noch tickte, lebte nur noch in ihren Erinnerungen.

Sie hatten oft gestritten, ihr Vater hatte sich alles anders vorgestellt in seinem Leben und ihre Mutter auch. Gegenseitige Vorwürfe machten das fehlende Geld nicht wett und die viel zu grosse Kinderschar war unerbittlich in ihren Forderungen an die Eltern. „Sei froh, Kind, dass wir Dich auch noch durchgefüttert haben!“ „Wärt ihr Kinder nicht, ich hätte ihn schon längst verlassen!“ Als jüngstes Kind der Familie hatte sie ihre Eltern erst kennen gelernt, als deren Beziehung längst zur frustrierten Zweckgemeinschaft mutiert war.

Und doch, zu einer anderen Zeit, musste die Verbindung ihrer Eltern eine liebevolle gewesen sein. Eine Beziehung, die gegen gesellschaftliche Zwänge kämpfte und gewann. Ein verliebter, stämmiger Mann, der sich das Geld für eine filigrane Armbanduhr vom Mund absparte und eine zauberhafte Frau, deren Herz darüber aufging. Und irgendwann, vor ungezählten Jahren, um exakt drei Uhr fünfunddreissig und vierunddreissig Sekunden, war diese Zeit vorbei.